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■ Es fehlt in Deutschland an einer ehrlichen und offenen Auseinandersetzung mit der EinwanderungsfrageIm Jammertal der Einfallslosen

Endlich: Wir müssen einander nicht mehr lieben. Die Multikultigesellschaft ist angeblich tot, aber ihre Bestandteile leben. In Deutschland war man auf einen sanften Übergang in die multikulturelle Weltgesellschaft programmiert. Islamisten gebärdeten sich als Demokraten, Feministinnen hörten sich geduldig die Vorzüge des Schleiers an, deutsche Linke fanden kurdische Faschisten toll. Für eine Umarmung war keine Verrenkung zuviel. Jetzt auf einmal soll diese feine Gesellschaft multikultureller Lügen gescheitert sein. Auch die Sündenböcke sind ausgemacht. Es stehen sich zwei unversöhnliche Parteien gegenüber: auf der einen Seite die nicht integrationsfähigen oder -willigen Ausländer, hauptsächlich Türken, auf der anderen Seite Deutsche, die nicht wahrhaben wollen, daß Deutschland längst ein Einwanderungsland ist.

An dieser Situation ist nichts außergewöhnlich, auch nicht die Art und Weise, wie sie in der Öffentlichkeit präsentiert wird. Die Medien machen Panik, die Politiker sind einfallslos, die Betroffenen frustriert. Die gegenwärtige Krise der deutschen Gesellschaft drückt sich eben nicht nur in hohen Arbeitslosenzahlen und stagnierenden Wirtschaftsdaten aus, sondern auch in der Passivität, mit der den anstehenden Herausforderungen begegnet wird. Die Einwanderung ist eine der großen Herausforderungen der Gegenwart und der nächsten Zukunft. Warum sollte man diese Frage anders behandeln als andere dringende Fragen, die auf langen Bänken ihrer Vertagung harren? Wenn man die hierzulande völlig außer acht gelassene globale Dimension von Einwanderungsprozessen betrachtet, so wird offensichtlich, wie infantil man sich in Deutschland diesem Phänomen gegenüber verhält. Da tauchen in den Darstellungen deutscher multikultureller Verhältnisse tatsächlich noch monolithische Kulturen auf, die von monolithischen Volksgruppen verteidigt werden. In vielen Analysen findet sich keine Spur der für moderne Einwanderungsgesellschaften typischen Zersplitterung, die auch in Deutschland gegeben ist. Der als Gefahr für die westliche Zivilisation heraufbeschworene Islam beispielsweise ist hierzulande so zersplittert wie nirgendwo sonst.

Die multikulturelle Gesellschaft ist keine Kopfgeburt, sondern eine globale Realität. Sie führt nicht nur zur Vermischung zwischen den Kulturen, zu einem höheren Niveau an Toleranz, sondern auch zu Abschottung und Xenophobie. Wenn die Komplexität multikultureller Gesellschaften vor Augen tritt, ist das kein Zeichen für ihr Scheitern, sondern für den Beginn einer neuen Gesellschaftsordnung, in der Wertvorstellungen ständiger Prüfung und Konkurrenz ausgesetzt sind. Eine verhärtete, wenig verspielte, ideenarme Gesellschaft wird sich schwertun, Spielregeln für diese neue Gesellschaftsform zu entwickeln. In einer solchen Gesellschaft ist dann fast nur noch von Kriminalität die Rede, wenn es um Einwanderer geht. Es wird Bürgerkriegsstimmung verbreitet. Im Fremden lauert Gefahr. Um so mehr, je näher er einem kommt. Und die Einwanderer in Deutschland sind den Deutschen verdammt nahe gerückt. Jetzt, wo der Integrationsprozeß weitgehend abgeschlossen ist, beginnt die eigentliche Phase des Zusammenlebens ohne weitere sichtbare Annäherung. Eine Koexistenz mit Differenzen. Das heißt, die Fremden werden als Andersartige definiert und definieren sich selbst als andersartig. Pluralistische Gesellschaften müssen derartige Differenzen aushalten. Doch wie weit können die Differenzen gehen?

Solche Fragen haben wir bisher kaum diskutiert. Wir waren nicht ehrlich genug. Die einen wollten nicht wahrhaben, was in diesem Land vor sich ging und geht: eine Einwanderung, die permanent Menschen aus allen Himmelsrichtungen dauerhaft nach Deutschland bringt. Die anderen wollen und können nicht die Ängste der Einheimischen akzeptieren. So wird eine dringend notwendige pragmatische Diskussion von einer vagen, auf Emotionen und Ahnungen gebauten Debatte verdrängt. Das Fehlen eines politischen Rahmens für die Einwanderung nach Deutschland führt zu Spekulationen. Der spekulative Charakter, den diese Frage hierzulande hat, führt zur steigenden Unsicherheit bei allen Beteiligten.

„Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ Mit dieser Formel haben Politiker hierzulande sich und die Bevölkerung an der Nase herumgeführt. Das geht nicht länger gut. Deutschland wird auf Dauer mit einer starken türkischen Minderheit und den komplexen Gegebenheiten einer multiethnischen Gesellschaft leben müssen. Den meisten Türken geht es in Deutschland nicht schlecht. Nicht wenige zählen zu Aufsteigern in dieser Gesellschaft. Die deutliche Zunahme von Selbständigen deutet auf eine zunehmende Risikobereitschaft und eine hohe Stufe der Integration hin. In Deutschland aber konzentriert man sich, anders als in den USA, auf die Verlierer. Arbeitslose, gewaltbereite Jugendliche, islamischer Fundamentalismus, türkischer und kurdischer Nationalismus, ein explosives Gemisch, das die innere Sicherheit Deutschlands bedroht. Mit solchen Katastrophenszenarien gibt man leichtfertig die Chance auf, ein positives Modell der Einwanderung zu schaffen, das anziehend wirken könnte. Statt dessen werden permanent die dunklen Seiten des Einwanderungsprozesses hochgerechnet. Die chronische deutsche Krankheit, der Hang zum Negativen, überwiegt.

Die deutsche Gesellschaft wird einen Vertrag mit den Einwanderern schließen müssen. Ähnlich wie andere Einwanderungsgesellschaften, wie England, Frankreich, die Niederlande und die USA. Deutschland ist ein Teil Europas und kann keinen Sonderweg in Sachen Einwanderung beanspruchen. Die Einwanderer aber müssen letztendlich auch anerkennen, daß sie in ein Land eingewandert sind, das überhaupt nicht auf diese Einwanderung vorbereitet war. Einwanderungsland wider Willen zu sein schafft Spannungen. Es hilft nicht weiter, diesen Spannungen gegenüber die Augen zu verschließen. An Taktik und Taktgefühl mangelt es beiden Seiten. Statt pauschal vom Scheitern der Integration zu sprechen und das Aus für multikulturelle Träume zu bejammern, sollten jetzt Koordinaten für eine ehrlichere und offenere Auseinandersetzung mit der Einwanderungsfrage gesucht werden. Doch die gegenwärtige Stimmung verspricht bislang wenig in dieser Richtung. Hoffnungen werden zu Grabe getragen und Ängste genährt. Müssen wir einander hassen, wenn wir einander nicht mehr lieben? Zafer Șenocak

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