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Der alte Fuchs steckt in der Klemme

Der Ex-Mafioso und Massenmörder Giovanni Brusca erhebt als Kronzeuge vor Gericht schwere Vorwürfe gegen Italiens ehemaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti  ■ Aus Rom Werner Raith

Daß die Sitzordnung diesmal schon von vornherein gegen ihn ist, merkt der Mann mit der gekrümmten Figur sofort; fast verzweifelt versucht er, einen Platz weniger nahe den Käfiggittern zu erlangen, hinter denen sonst Terroristen oder Mafiosi Platz nehmen. Nichts zu machen, der Gerichtssaal im Hochsicherheitsgefängnis Rebibbia zu Rom, wo besonders attentatsgefährdete Verhandlungen hinverlegt werden, ist ein langer Schlauch, und für die Angeklagten auf freiem Fuß ist eben der Platz zwar außerhalb, aber doch dicht neben den Gittern vorgesehen.

Vor ihm, gut zehn Meter entfernt, spielt sich dann das ab, was nach Meinung der meisten Prozeßbeobachter dem siebenmaligen Ministerpräsidenten – nach einer ansehnlichen Anzahl von Teilerfolgen seit Prozeßbeginn vor einem Jahr – nun doch noch das Kreuz brechen könnte: Da sagt derzeit der allerneueste und wohl wichtigste aller „Kronzeugen“ aus, Giovanni Brusca, 37, bis zu seiner Verhaftung vor einem halben Jahr die Nummer zwei in der Hierarchie der „Ehrenwerten Gesellschaft“ Siziliens. Und der beschuldigt Andreotti ohne alle Umschweife, der „wichtigste Bezugspunkt der Cosa Nostra in der Politik“ gewesen zu sein, der Dreh- und Angelpunkt für die Straffreiheit, deren sich die Mafiabosse jahrzehntelang erfreuen konnten. Andreotti soll dafür gesorgt haben, daß regelmäßig alle Verurteilungen der unteren Instanzen aufgehoben wurden. Andreotti lauscht dem Mann vor ihm konzentriert, macht sich mit seinem legendären goldenen Füllfederhalter Notizen, nur ab und zu sieht er mit einem schnellen Blick seiner stets zusammengekniffenen Augen hoch.

Die Szene hat zweifellos etwas sehr Absurdes: Der Mann, der ihn anschuldigt, ist zwar anwesend, aber nur schemenhaft wahrnehmbar. Rechts und links und hinter ihm ist ein kugelsicherer Milchglasparavent aufgebaut, der den Zeugen als Schatten gerade noch erkennen läßt, „ein wenig wie in früheren Filmen, wo die Frauen sich auch hinter solchen Halbwänden auszogen und ihre nackte Figur ahnen ließen“, wie der Beobachter der Washington Post feststellt. Giovanni Brusca zieht sich in der Tat auch aus, moralisch und was sein Wissen betrifft. Nachdem er gleich nach seiner Verhaftung eine Reihe von Vernebelungsaktionen gestartet hatte, sind ihm die Ermittler offenbar mittlerweile beigekommen – ohne Umschweife berichtet er darüber, für wen und warum er damals noch versucht hatte, Sand ins Getriebe der Justiz zu werfen. Er antwortet mit oft entwaffnend kurzem Ja ohne weitere Zusätze, mitunter stellt er kluge präzisierende Gegenfragen, „um Mißverständnisse zu vermeiden“. Kalt und ohne Emotionen kommt das über die Lautsprecher, in einem ausgezeichneten Schriftitalienisch – ganz anders als bei nahezu allen anderen Mafiosi, die ein selbst Italienern kaum verständliches Sizilianisch hervorsprudeln. Die Stimme paßt so wenig zu dem eher einfältig-rustikalen Gesicht, das man aus den Tagen seiner Verhaftung kennt, daß die Kollegin vom Staatsrundfunk erstaunt fragt: „Ist er das tatsächlich, oder verkohlen die uns?“ Auch Andreotti ahnt offenbar, daß dieser Mann hier für ihn gefährlicher ist als alle anderen bisher.

Und damit hat er recht. Brusca vermeidet, was andere „Kronzeugen“ vor ihm schnell zur Beute raffinierter Fragetechniken der Verteidiger werden ließ: Er trennt streng das, was er selbst gesehen und erlebt hat, von dem, was er nur gehört hat. Daß Andreotti der Mafia nicht selten die Hand gereicht hat, kann er nicht aus eigenem Erleben belegen. Doch wo immer ihn die Verteidiger zu packen versuchen, zieht er eine Menge schlagender Indizien hervor, die das Gemauschel zwischen dem Toppolitiker und den Topmafiosi sofort höchst glaubwürdig machen. Drängen ihn die Verteidiger, einfach nur mit Ja oder Nein zu antworten, reagiert er gewandt: „Dann kann ich die Frage nicht beantworten.“ Peng!

Nur schwer vorstellbar, daß hinter dieser Stimme ein blutrünstiger Massenmörder stecken soll. Mehr als 35 Morde hat er selbst eingeräumt, darunter den Auftrag für eine der grausamsten Taten, die Sizilien je erlebt hat: Sie ließen den zwölfjährigen Sohn eines Mafia-Aussteigers in einem unterirdischen Verlies regelrecht verhungern, lösten seine Leiche in Säure auf – und all das wurde mitgefilmt, die Kassetten dem Vater übersandt. „Ich würde mein Leben für seines geben“, sagt Brusca ruhig, „aber niemals werde ich seinen Vater um Vergebung bitten.“

Andreotti schüttelt in der Sitzungspause den Kopf: „Und solchen Leuten glauben die mehr als mir.“ Ein Satz, den er schon oft von sich gegeben hat, doch der an diesem Tag besonders häufig zitiert wird, denn auch ein anderer hat ihn gebraucht: der Mailänder Medientycoon und Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Auch für ihn ist es einfach „unglaublich, daß man Massenmörder gegen einen Mann aussagen läßt, der seinem Land siebenmal als Ministerpräsident gedient hat“.

Doch die meisten Italiener sehen in derlei Hilfen allenfalls die Solidarität unter die Räder Gekommener – auch Berlusconi muß sich derzeit gegen den Vorwurf erwehren, seine Firmen hätten mit Mafiosi zusammengearbeitet. Der Massenmörder Giovanni Brusca könnte am Ende auch noch gegen Berlusconi ein paar Pfeile im Köcher haben.

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