: "Jede Firma hat ihre Farbe"
■ Zwischen Ästhetik und Ökonomie: Ein Gespräch mit dem kalifornischen Künstler Allan Sekula über Fotografie im Dreieck von Malerei, Literatur und Kino
taz: Der Titel der Ausstellung Ihrer Fotoarbeiten aus den Jahren 1972 bis 1996, die jetzt in der Berliner DAAD-Galerie eröffnet wird, ist „Dismal Science“. Was bedeutet dieser Titel?
Allan Sekula: Ich habe „Dismal Science“ von dem britischen Essayisten, Goethe-Übersetzer und politischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Thomas Carlyle übernommen. Er prägte diesen Begriff um 1840 herum für die politische Ökonomie. Es gibt wohl keine deutsche Entsprechung. Vielleicht „traurige Wissenschaft“. Es steckt natürlich auch ein melancholisch-ironischer Verweis auf die fröhlichen Wissenschaften der Poesie, der Musik und der ästhetischen Fächer überhaupt dahinter.
Der Titel der Ausstellung bezieht sich auch auf einen Komplex von Arbeiten, die Sie hier zeigen?
Ja, er ist auch der Titel der Diaprojektion, die ich installiert habe. Sie zeigt ein Kapitel aus meinem „Fish Story“-Projekt, genauer gesagt, eine der ersten Arbeiten dieses fortlaufenden Projekts. Mit diesen Bildern, die in Newcastle- upon-Tyne und in Glasgow am Clyde entstanden sind, an den Orten, die Rosa Luxemburg vor 100 Jahren als Beispiele des fortgeschrittenen Kapitalismus zitierte, gehe ich der Geschichte der britischen Werftenindustrie nach.
Sie präsentieren Ihre Fotoarbeiten hier in ganz unterschiedlichen Formen. Es finden sich kleine Broschüren, und es steht ein Tisch mit einem Stuhl zum Lesen bereit, es gibt die Bilder an der Wand, die Diaprojektion, verschiedene Möbel, dekorative Palmen und die Bilder im Katalog.
Es gibt für meine Arbeit drei Modelle: die Bildergalerie, den Lesesaal und den Vorführraum. Diese drei Modelle korrespondieren mit drei kulturellen Praktiken, der Malerei, der Literatur und dem Kino. In diesem Dreieck bewegt sich für mich die Fotografie. Der institutionelle Druck geht heute dahin, die Fotografie vor allem mit der Malerei, dem Tableau zu verbinden. Ich bestehe allerdings auf ihrer Beweglichkeit und auf der Wichtigkeit der literarischen und filmischen Komponente.
Das knüpft an eine klassisch modernistische Auffassung der Fotografie, wie sie Clement Greenberg formulierte, an?
Für Clement Greenberg war die Fotografie eine literarische Kunst und ein Bastard. Er bevorzugte Walker Evans gegenüber Edward Weston, denn er mochte das erzählerische Potential der Fotografie. Für mich heißt das, buchstäblich den Text in meine fotografische Arbeit zu integrieren. Ihn nicht auf die Bildunterschrift zu reduzieren, die das Bild verankert. Der Text, ob als kurzes Notat an der Wand oder als Essay im Buch, soll eine Relaisfunktion haben, um Roland Barthes' Unterscheidung von Anker und Relais zu benutzen. Der Anker hält eine bestimmte Interpretation fest und klammert das Foto daran an, während das Relais das Bild mit einer ganzen Reihe von Interpretationen verschaltet.
Die Einladung zu Ihrer Ausstellung zeigt ein Foto von 1973, „From Aerospace Folktales“. Was hat es damit auf sich?
Die Ausstellung in Berlin beginnt mit drei Arbeiten, die um die Luftfahrt- und Verteidigungsindustrie, in diesem Fall Lockheed und Convair, herum gruppiert sind. Um diejenige Industrie, die die damalige Gesellschaft des Überflusses mitproduzierte. Und um eine konservative Arbeiterklasse, die sich selbst nicht mehr als eine solche wahrnahm, sondern als Mittelschicht der Angestellten und Ingenieure. Mich interessiert, wie das Alltagsleben der Leute durch ihr Verständnis des Wirtschaftslebens, aber auch durch ihre ideologischen Mißverständnisse geprägt ist.
Sie waren noch Student, als Sie mit dieser Arbeit anfingen.
Ich machte meinen Abschluß und war natürlich selbst das Produkt dieser militärisch-keynesianischen Maschine. Das Universitätssystem in Kalifornien war vielleicht das am meisten verfeinerte Beispiel eines Staates, der versuchte, sich nach den Vorgaben der Verteidigungsindustrie zu organisieren. Ich betrachtete „Aerospace Folktales“ als eine Arbeit über die Politik der Familie, der Schule und der Universität. Gleichzeitig waren diese Erzählungen eine Antwort auf den Kunstbetrieb jener Periode, in dessen Konzeptkunst ich vielfach eine politische Verabschiedung sah.
Aber die siebziger Jahre sind doch als hochpolitisiert in Erinnerung.
Ja, die andere Erfahrung zu Lockheed war San Diego. Ich studierte dort, und San Diego war die entscheidende Marinebasis für den Vietnamkrieg. Die jungen Soldaten desertierten, und wir versteckten sie in unseren Schlafsälen. Wir gingen zu Demonstrationen, es war ein sehr gewalttätiges Klima. Gleichzeitig war da diese Landschaft mit Palmen, Strand, Sonne und Surfen. Und ein intellektuell stimulierendes Milieu, mit Herbert Marcuse, Angela Davis, Frederic Jameson und John Baldessari. Bei ihm und Herbert Marcuse nahm ich meine Kurse.
Da Sie John Baldessari erwähnen und damit die Frage der konzeptuellen Fotografie wieder auftaucht, was ist die Unterscheidung, die Sie zwischen Ihren fotografischen Sequenzen und der fotografischen Serie treffen?
Sequentiell angelegte Arbeiten sind offener, mehrstimmig, sie können sogar ganz verschiedene fotografische Stile in sich aufnehmen. Serien scheinen mir dagegen von einer geradezu metronomischen Regularität. Serien sind natürlich auch marktkonform. Man kann Teile aus einer Serie herausnehmen, ohne notwendigerweise die Integrität des einzelnen Elements oder die des großen Ganzen zu verletzen. Mit einer Sequenz geht das nicht. In meinem Verständnis und in meiner Arbeit ist sie ein essayistisches Fortschreiben von Gedanken. Das führt zu einer komplexeren Struktur, die es allerdings erlaubt, eine Serie innerhalb der Sequenz zu zeigen.
Von der Sequenz zur Frage der Funktion der Farbe in Ihrer Fotografie. Ist sie ein Mittel, Alltäglichkeit herzustellen?
Nicht unbedingt. Farbfotografie ist heute zwar der Standard für die Amateurfotografie, und insofern ist sie alltäglich. Ich verwende bei „Fish Story“ Farbe, um die Gegenwart der maritimen Welt zu verdeutlichen. Schwarzweiß wird zumeist mit Vergangenheit identifiziert, und der Mythos der Seefahrt geht ja dahin, daß sie ein Anachronismus ist. Um den Seehandel zu entmystifizieren, ist die Farbe ein ganz wichtiges Mittel. Dazu kommt, daß beim Stahlschiffbau die Farbe eine wesentliche Rolle spielt. Jede Firma hat ihre eigene Farbe, wie sie ihr eigenes Logo hat. Der Konsument kennt diese Farben nicht, weil der globale Güterverkehr zu weiten Teilen unsichtbar abläuft. „Evergreen“ ist eine ganz distinkte Farbe. „Evergreen“-Grün ist ein unbekanntes Grün, während „Fuji“-Grün ein bekanntes Grün ist, auch wenn die japanischen Fuji-Filme in taiwanischen „Evergreen“-Containern verschifft werden.
Kann man das als denkwürdiges Bild von der komplizierten Einheit von Ästhetik und Ökonomie begreifen, von fröhlicher und trauriger Wissenschaft? Das Bekannte, das paradox versteckt im Unbekannten transportiert wird?
Es erinnert mich an eine aufschlußreiche Begebenheit. Als ich „Fish Story“ im Boijmans Van Beuningen Museum in Rotterdam zeigte, gab es ein große Schau von holländischer Marinemalerei des 17. Jahrhunderts, die „Evergreen“ sponserte. Die wollten unbedingt, daß in dieser Ausstellung ein Modell ihres üblichen Containerschiffs aufgestellt würde. Die Kuratoren alter Gemälde sagten natürlich nein, nicht in unserem Museum. Also sagte ich, wunderbar, stellen Sie es bei mir auf. Ich wollte ja, daß sich die Leute schon aus Wissensgründen auch ein technisch genaues Bild von einem modernen Containerschiff machen konnten. Das Modell brachte dann tatsächlich die Gegenwart in die Nostalgie dieser alten Seestücke hinein. Bei mir hatte dieses Modell die gleiche Funktion, wie es jetzt das Feldbett aus dem Golfkrieg hat, das ich hier im DAAD aufstelle. Ich bin nicht interessiert, neue Objekte herzustellen, oder am Ready-made als solchem. Ich bin an Möbeln oder Geräten interessiert, die eine Beziehung zu den Fotosequenzen und zum Text haben und die den Besucher durch die Ausstellung leiten. Interview: Brigitte Werneburg
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