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Bis du vernünftig geworden bist

Das Jüdische Museum Wiens stellt in einer volkspädagogisch ambitionierten Schau die Totenmasken ermordeter KZ-Häftlinge aus. Die jüdische Gemeinde ist entsetzt, will aber keinen Eklat  ■ Von Mariam Niroumand

In Wien heißt die jüdische Gemeinde vorsichtig „Israelitische Kultusgemeinde“. Man signalisiert, daß einem die Religion Privatsache bleibt – man pflegt halt gemeinsam einen „Kultus“, gehört nicht zu einem anderen „Volk“; die Loyalität als Staatsbürger geht vor. Im offiziellen Organ Die Gemeinde findet sich unter „Vereine & Termine“ das Kurzessay: „Ist Pessach ein Freiheitsfest?“. In diesem stellt der Rabbiner Chaim Eisenberg rhetorisch die Frage, ob es nicht genüge, sich an die Sklaverei zu erinnern, ob man da auch noch scharfe Sachen essen müsse, bis einem die Tränen kommen?

7.000 Juden leben in Wien, 8.000 in Österreich, darunter steigend der Anteil der Russen, der Orthodoxen, der Kinderreichen. Ein zentrales Mahnmal für die toten österreichischen Juden des Zweiten Weltkriegs gibt es noch nicht; niemand will es verhindern, aber die Diskussion hängt in derselben paralysierten Schwebe wie in Berlin. Ortsbezeichnungen wie „Judengasse“ oder „Judenplatz“ sind hier kein Problem. Am Eingang zum Gemeindehaus durchläuft man eine Befragung, die der am Flughafen von Tel Aviv nicht unähnlich ist: „Warum sind Sie nach Wien gekommen? Wollen Sie außer unserem Präsidenten Hofrat Paul Grosz auch noch andere Menschen treffen? Haben Sie Ihr Gepäck selbst gepackt? Worüber wollen Sie mit ihm sprechen? Bitte schalten Sie Ihr Gerät ein!“

Mit Hofrat Paul Grosz, dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, möchte ich über eine Ausstellung sprechen, die zur Zeit in Wiens Jüdischem Museum stattfindet. Dort werden 29 Totenmasken von ermordeten Juden gezeigt, die 1942 auf Anfrage von Josef Wastl, dem Leiter der Anthropologischen Abteilung des Wiener Naturhistorischen Museums, bei Gustav von Hirschheydt, Oberpräparator von Posen, bestellt wurden, zusammen mit „typisch ostjüdischen Judenschädeln“. Von Hirschheydt hatte sich aber an den Schädeln (25 Reichsmark), den Totenmasken (15 RM) und den Gipsbüsten (32,50 RM) mit Typhus infiziert und war verschieden, bevor der Auftrag ausgeführt werden konnte. So übernahm der Direktor des Anatomischen Instituts, Hermann Voss, die Abwicklung. Die Schädel, zu denen man keine Namen oder sonstige näheren Angaben hat, stammen wahrscheinlich aus einem Lager in der Umgebung des Instituts. „Wie Rüben“, so berichtete der Portier damals, seien die abgeschlagenen Köpfe in Körbe geworfen und zur Präparation gefahren worden. Ob sie jemals in Wien ausgestellt wurden, weiß man nicht.

Patricia Steines, die in dieser Angelegenheit wohl so etwas wie die Lea Rosh von Wien darstellt, stieß auf die Schädel und die Masken, als sie in den achtziger Jahren an einer Recherche über Wiens jüdische Friedhöfe arbeitete. Daß Wien nie so recht ein 1968 erlebt hat, merkt man auch daran, daß Schädel, Masken und überhaupt ein „Rassesaal“ sich im Naturhistorischen Museum immerhin bis 1990 haben halten können. Nach der Entdeckung übergab das Naturhistorische Museum die Schädel und Masken der Israelitischen Kultusgemeinde. Diese ließ die Schädel bestatten und übergab ihrerseits die Masken dem Jüdischen Museum.

Hofrat Paul Grosz war erst jetzt, eine Woche nach Eröffnung, in der Ausstellung gewesen. „Mit Widerwillen und Abscheu“ habe er die Masken betrachtet. Die Vorstellung des inzwischen weggegangenen Museumsleiters Julius H. Schoeps, Aufklärung sei in diesem Fall über „religiöse Bedenken“ zu stellen, wischt er mit müder Hand beiseite: „Aufklärung hat noch nie etwas gegen Antisemitismus ausrichten können.“ Die Stimmung in der Gemeinde sei wohl insgesamt ähnlich wie bei ihm. Allerdings habe man nicht viel darüber gesprochen. Sein Versuch, in einer Aufsichtsratssitzung über die Sache zu reden, sei auf wenig Gegenliebe gestoßen. Nur ein paar Orthodoxe hatten erwogen, gegen die Ausstellung zu demonstrieren, unter anderem deshalb, weil ihnen grundsätzlich dreidimensionale Abbildungen gegen den Strich gingen. Als dann das Museum ein rabbinisches Gutachten eingeholt hatte, dem zufolge das jüdische Religionsgesetz Halacha nichts gegen die Ausstellung der Masken einzuwenden habe – schließlich seien sie nicht direkt mit den Toten in Berührung gekommen, sondern aus Abdrücken angefertigt worden –, legte sich der Protest. Im Vorfeld der Ausstellung war er im wesentlichen von Patricia Steines initiiert, die ihren Fund nun brutal ans Licht gezerrt, statt angemessen beerdigt sah.

Warum aber wollte die Gemeinde, die Sitz und Stimme im Leitungsausschuß des der Stadt gehörenden Jüdischen Museums hat, sich nicht vehementer wehren? „Die Informationen waren spät an uns gekommen“, sagt Grosz verschwommen und: „Eine Absage hätte zum Eklat geführt.“ Den es in eigenen Angelegenheiten dringend zu vermeiden gilt. Man wird tatsächlich das Gefühl nicht los, als stamme das Unbehagen an der Ausstellung der Masken nur zum Teil aus pietätischen Gefühlen. Ein anderer Teil scheint die unausgesprochene Furcht zu sein, die zu ostentative Darstellung jüdischen Leids könne die Betrachter ekeln und einen ohnehin nur schlummernden Antisemitismus wieder zu frischem Leben erwecken.

Womöglich hatte man auf der anderen Seite ähnliche Befürchtungen. Jedenfalls hat die österreichische Presse die Ausstellung nur in äußerst dürren, beifälligen Worten durchgewunken. In einem Sechzigzeiler attestierte der Standard dem „Versuch über die Shoah“, der Umgang mit „diesen grausigen Zeit-Dokumenten“ sei „in jedem Maße gelungen“. Der Kurier pflichtet gequält bei: „Die Ausstellung verlangt viel. Sie zwingt dazu, sich den Taten der eigenen Spezies zu stellen. Jeder sollte es tun.“

Die Qual ist natürlich intendiert. Stelen aus dickem Glas, entworfen von der österreichischen Künstlerin Valie Export, sind an verschiedenen Orten der Stadt – dem Maria-Theresien-Denkmal, dem Michaelerplatz oder dem Graben – postiert. Hauchdünn sieht man darauf die Umrisse der Masken von hinten und gleichzeitig das eigene Spiegelbild. Gefoppt schleicht man um das Glas, um an eine „Vorderseite“ zu gelangen, aber das, so der Kurator Hannes Sulzbacher gestreng, solle dem Betrachter verwehrt werden: „Niemand soll klar entscheiden können, ob er Täter oder Opfer ist.“

Solchermaßen voreingeschüchtert, betritt man die Ausstellungsräume schon etwas klamm. Riesendias von medizinischen Experimenten aller Art geben den Auftakt: Wundbrand-Experimente, Höhendruck- Experimente, Versuche zu Verbrennungen. In Vitrinen, die stets von Besuchertrauben umstellt sind, liegt dann der Briefwechsel aus, der dem Transfer der Masken vorausgegangen war und der im Ton immer herzlicher wird. „Sehr geehrt!“, „Wäre es möglich?“, „Typisch ostjüdisch“. „Altersgruppe 20–45?“, „Leider keine genaueren Angaben“, „Danke vielmals!“ – bis zur Frühpensionierung von Wastl und schließlich der Übergabe an die Kultusgemeinde. Selten sieht man Leute in Ausstellungen so gebannt Dokumente lesen.

Dann die Masken. Kaum jemand bleibt länger bei ihnen stehen. Sie liegen auf einer Drahtglaskonsole, 29 in einer langen Reihe, von hinten durch eine Drahtglaswand angestrahlt, die an Stacheldraht erinnern soll. Das grelle Licht auf dem dicken Glas erzeugt einen Leichenschauhauseffekt. Die meisten Masken sind nachgedunkelt, inzwischen lehmfarben und sehr klein, die Augenlider sind meist halb geschlossen, in wenigen Fällen wie panisch aufgerissen. Man darf sie sich nicht so dünn vorstellen wie Masken, die man sich aufsetzt. Sie sehen wirklich wie halbe Schädel aus. Der Abdruck muß so genau gewesen sein, daß man auch auf diesem zweiten Abdruck noch Details wie aufgesprungene Lippen oder Mundwinkelrisse sehen kann. Bis auf eine Maske, die von einem kräftigen Mann stammt, zeigen alle hohlwangige, ausgezehrte, hungrige Köpfe. Die Schlüsselbeine und Schultern der beiden aufrecht stehenden Büsten wirken wie Vogelknöchel. Wer zufällig einen Blick an die Decke wirft – was sicher nicht beabsichtigt ist –, entdeckt im Stuck des alten Wiener Hauses eine Gipsdarstellung von Orpheus mit der Leier, wie er, von Putten aus der Unterwelt umspielt, der davonschwebenden Eurydike hinterhereilt. Spiegel an beiden Enden der Konsole verlängern die Reihe der Masken ins Endlose – der Massengrabeffekt. Im mittleren Raum ist die Drahtglaswand direkt neben den Masken an mehreren Stellen durchlöchert. Nur wenige Besucher wissen, daß dahinter Videokameras postiert sind, die elektronische Aufnahmen von den Eintretenden machen.

Zwanzig Minuten später kann man sich in einem letzten Raum die Aufnahmen ansehen. Dort hockt der Besucher, meist allein, auf einer Bank und wartet, bis er sich selbst auf den Monitoren vorbeikommen sieht. Es hat etwas von Nachsitzen. Denk noch mal über alles nach, und wenn du dich beruhigt hast, kannst du wieder mitspielen! „Dies ist eine Ausstellung über den Besucher, seine Hilflosigkeit im Umgang mit dem Holocaust“, meint die leitende Kuratorin Frau Heimann-Jelinek.

Ob das Konzept dieser Schockpädagogik, die sich Arbeiten wie Jochen Gerz' versinkender Harburger Säule verpflichtet fühlt, aufgeht, ist höchst fraglich. Vor allem ältere Besucher, oft aus den USA, Israel oder Deutschland, bemerken nicht nur die Kameras nicht, sondern verstehen auch nicht, daß ihnen hier eine Lektion erteilt werden soll. Für Selbstreflexion sind sie nicht in Stimmung: Es gab Interessanteres.

Übereinstimmend sagen alle, daß sie die Dokumente viel beeindruckender fanden als die Masken. „Diese Sprache“, sagt eine, „wenn die Witwe von diesem Hirschheydt so lieb von ihm spricht und dann sagt, er sei von einer Judenlaus mit Typhus vergiftet worden – daran waren wir dann auch noch schuld!“ Sie war 15, als sie Wien verließ, und wartete in Palästina auf ihre Eltern, denen die Flucht nicht mehr gelungen war. „Wenn ihre Masken dabei wären, ich wollte nicht, daß sie hier so öffentlich auslägen.“ Eine Engländerin weint: „Wie dieses Geschäftsmäßige einfach immer weiterratterte.“ Zwei jüngere Frauen hatten die Kameras gleich bemerkt: „Das war wie Gewehre, die auf einen gerichtet sind“, meint die eine. Als sie sich dann sehen, kichern sie, wie man eben kichert, wenn man sich unerwartet im Film sieht. Ein junger Österreicher hingegen kann ganz bitter werden, wenn man ihn fragt, ob es in Ordnung sei, die Masken auszustellen: „Das sind sehr einflußreiche Kreise, sage ich Ihnen, die hier ihre Interessen mal wieder ins Spiel bringen. Bei ägyptischen Mumien oder bei unserem Ötzi regt sich doch auch keiner auf!“

„Masken – Versuch über die Shoah“. Jüdisches Museum Wien, noch bis 26. Oktober. Weitere Informationen: http://www.jmw.at/

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