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Verlassene Häuser

■ Bilder aus Amerika nach Ereignissen mit tödlichem Ausgang: Joel Sternfeld hat "Tatorte" fotografiert

Tief steht die Frühlingssonne und wirft ihr goldenes Licht unter die üppige Baumkrone auf den dicken Stamm des sich weit aufspreizenden Holzapfelbaums. Verholzte Wurzelstränge winden sich auf dem mit lauter kleinen weißen Blütenblättern übersäten Boden, um irgendwo anders wieder im Erdreich zu verschwinden.

Es ist Mai 1993, und nichts, aber auch wirklich nichts scheint diese Idylle stören zu können. Sieben Jahre zuvor sah dasselbe Bild in der niedrigen Morgensonne vom 26. August anders aus. Um 6.15 Uhr fand man hier unter dem Baum die Leiche der 18jährigen Jennifer Levin. Sie wurde erdrosselt von dem 19 Jahre alten Robert Chambers, mit dem sie den Abend in einer Bar nahe des Central Parks in New Yorks Upper West Side verbracht hatte.

Nachdem der 1944 geborene, amerikanische Dokumentarfotograf Joel Sternfeld 1991 nach einem einjährigen Italienaufenthalt in die USA zurückkehrte, hatten sich ihm die vielen Kreuze und Schreine an den Wegesrändern ins Gedächtnis eingebrannt, die im Süden Europas Unfallorte markieren. Es brauchte zwei weitere Jahre, bis in ihm schließlich der Gedanke gereift war, mit eigenen Bildern ebensolche Zeichen in Amerika zu setzen. „Ich merkte, daß ich etwas mit mir herumschleppte: eine Liste von Orten, die ich nicht vergessen kann aufgrund der Tragödien, durch die sie definiert werden“, notiert er. Von da an reiste er drei Jahre lang durch die Vereinigten Staaten und fotografierte die Orte von Ereignissen mit tödlichem Ausgang. Nüchterne Begleittexte erläutern die Tragik des jeweiligen Orts. Dabei handelt es sich keineswegs nur um tragische und unerklärliche Gewaltverbrechen wie im Falle von Jennifer Levin. Sowenig wie alle Aufnahmen diesen durch das Licht eingefangenen Charme morgendlicher, unberührter Stille und Einsamkeit haben. Nur menschenleer sind sie alle, seine Fotografien – weil die Menschen, um die es Sternfeld geht, nicht überlebt haben oder an diesen Orten nicht mehr leben können. Einmal sind es die Sioux-Indianer, die bereits im 19. Jahrhundert von der amerikanischen Regierung von den Black Hills in South Dakota vertrieben wurden. Damals ging es um viel Gold und heute um die geldspendende Touristenattraktion des Mount Rushmore National Memorial, um die in die Berge gemeißelten Porträts von vier amerikanischen Präsidenten.

Dann wieder geht es um den brutalen Mord an einer jungen Frau. 38 Menschen hörten ihre Schreie, aber niemand half ihr, als sie mit unzähligen Messerstichen vor ihrer Wohnung niedergestochen wurde. Das Unglaubliche passierte in der aufgeräumten Straße einer Kleinstadt, rechts gepflegte Backsteinbauten, links eine aufgepeppte Fachwerkhauszeile und am Ende ein sechs Stockwerke hoher Neubau. Mal ist der Tatort eben eine solche öffentliche Straße, mal ist er eine Landstraße, mal ein verlassenes Haus, ein leerer Kinosessel, eine Brücke über einem Fluß oder eine Fabrik. Die Orte sind so unterschiedlich wie die Verbrechen und Schicksale, die sich dort abspielten, bevor Sternfeld die Linse draufhielt.

„Die Erfahrung hat mich immer wieder von neuem gelehrt, daß man nie wissen kann, was sich unter einer Oberfläche oder hinter einer Fassade verbirgt“, sagt er. Viele der abgebildeten Orte wurden, zumindest vorübergehend, zu ikonographischen Mustern der amerikanischen (Medien-)Geschichte. Als Nixon 1970 entschied, den Vietnamkrieg auf Kambodscha auszudehnen, kam es auch an der Kent State University in Ohio zu Studentendemonstrationen. Weil sie den Campus okkupierten und ein Gebäude in Flammen setzten, eröffnete die Nationalgarde das Feuer auf die StudentInnen. Viele wurden verletzt, vier starben im Kugelhagel. Neun Jahre später zahlte der Bundestaat Ohio den Eltern der erschossenen Studenten je 15.000 Dollar, ohne ein Fehlverhalten der Ordnungskräfte einzugestehen. „Als ich anfing“, sagt Sternfeld, „wollte ich wissen, ob Amerika heute gewalttätiger ist als früher, ob es gewalttätiger ist als andere Nationen. Nun begreife ich, daß diese Fragen nicht die sind, um die es wirklich geht. Jede Tragödie fordert ihr eigenes Erinnern ein. Jede dieser Tragödien ist auch die unsere.“ Petra Welzel

Joel Sternfeld: „Tatorte – Bilder gegen das Vergessen“. 112 Seiten, 52 Farbtafeln, Schirmer/Mosel, 78 DM

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