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Durchblick für Blinde

■ Für blinde Internet-Fans gibt es Tastaturen, Tonprogramme und Browser, die jetzt den Zugang zum Netz erleichtern

Michael Lang ist seit dem fünften Lebensmonat blind. Trotzdem ist der 32jährige ein leidenschaftlicher Computeranwender. Nach der mittleren Reife am Blindengymnasium in Marburg lernte er das Programmieren beim Berufsförderwerk in Heidelberg. Nun nutzt er den Computer privat wie auch beruflich.

Seine Vorliebe gilt dem Internet. „Nachrichten und Zeitschriften höre ich mir über Lautsprecher an“, sagt Lang, der – anders als Behinderte, die erst im Erwachsenenalter erblindeten – im Sprechtempo in der Blindenschrift, der Brailleschrift, lesen kann. Bei Klassikern wie Goethes Faust hingegen tastet er Zeile für Zeile der Punktschrift ab: „Bei klassischen Werken ist jedes Wort wichtig.“

Lang arbeitet mit einer gewöhnlichen Tastatur, die durch eine Braillezeile ergänzt ist, auf der er den Bildschirmtext ertasten kann. Die Brailleschrift ist eine Punktschrift, die geschaffen wurde, um Blinden das Lesen von Büchern zu ermöglichen. Für jeden Buchstaben gibt es ein Zeichen, das aus acht Punkten zusammengesetzt ist, die als kleine Erhebungen auf den einzelnen Blättern ertastet werden können.

Beim Computer ist das Prinzip das gleiche: Jetzt allerdings sind etwa zwanzig Achtergruppen von kleinen Löchern in die Braille-Leiste gebohrt, aus der wechselnd – je nach Inhalt der Web-Seite – weiße Stifte hervortreten. So können Sehbehinderte Textinhalte, wie zuvor auf einem Blatt Papier, bequem ertasten.

Alternativ kann sich Michael Lang den Inhalt der Seite auch anhören: Sogenannte Optical Character Recognition (OCR)-Programme ermöglichen es, daß der Text erkannt und automatisch über Lautsprecher oder Kopfhörer vorgelesen wird. Vier bis sechs Stunden verbringt Lang täglich vor dem Computer, um schon vor Erscheinen der Tageszeitung am Abend zuvor optimal informiert zu sein – via online. Erscheint ein neuer Roman oder Klassiker in einer Buch-Datenbank, ist er durch eine Web-Site, die „Online Books Page“, sofort darüber „im Bilde“. Seit Anfang 1992 beschäftigt sich Lang mit der Online-Kommunikation, die mit E-Mails, Newsgroups und eigenen Homepages einen direkten Kontakt zu allen Menschen mit Computer, Modem und Internetanschluß bietet.

Internetprogramme vom Computergiganten Microsoft wie der „Explorer“ oder der „Navigator“ vom Konkurrenten Netscape sind bei blinden Computeranwendern nicht gefragt. „Lynx“ hingegen, ein Browser, der auf Texten basiert, verspricht mehr. Die Information erscheint ohne lange Wartezeiten auf dem Bildschirm, da er keine aufwendigen – und für Blinde unnötigen – Grafiken aufbaut.

Zwar hinken die Lynx-Programmierer bis jetzt dem Standard für die Internetsprache HTML hinterher, dennoch wird Lynx von Blinden vorzugsweise genutzt. Lynx ist vom Atomforschungszentrum CERN in Genf entwickelt und ursprünglich für das Unix- System geschaffen worden.

Seit kurzem können es Blinde für das DOS-Betriebssystem für PC kaufen. „Natürlich versuchen wir, den Browser weiterzuentwickeln. Doch so schnell wie die Konkurrenz können wir nicht sein. Nachgefragt wird schließlich das Visuelle, das Bunte“, sagt Lynx- Programmierer Foteos Macrides von der Gesellschaft für Biologische Forschung in Worcester im US-Bundesstaat Massachusetts.

Damit Blinde auch an der schnellen Entwicklung der Browser von Microsoft und Netscape teilhaben können, entwickelten Firmen spezielle Programme. „Die meisten Computeranwender arbeiten mit grafischen Oberflächen. Das hat für Blinde keinen Wert. Wir schafften Programme, die das Bild überflüssig machen“, so Michael Herzberg, der für die Firma Baum aus Hamm das Programm „Virgo“ für Blinde und Sehbehinderte verkauft.

Die Inhalte der Web-Seiten überträgt das Programm, der sogenannte Screen-Reader, automatisch in Text. Hinter jedem Bild verbirgt sich ein Text. Verknüpfungen, sogenannte „Links“, werden besonders hervorgehoben, zum Beispiel mit dem Wort „Link“ vor der Verknüpfung: So kommt der blinde Anwender auch ohne einen Mausklick auf die nächste Seite. Auch Torsten Brand von der Softwarefirma K.I.S.S. in Marburg setzt sich dafür ein, daß auch Blinde mit Computerprogrammen arbeiten können, die zunächst für Nichtbehinderte geschaffen worden sind. „Ob wir ein Textprogramm oder ein Internetprogramm für Blinde umschreiben, ist egal: Ein Programm zur Texterkennung plus Sprachwiedergabe reicht dafür aus“, sagt Brand.

Doch die Entwicklung von Internetprogrammen verläuft rasant: Im Halbjahrestakt kommt ein Update, eine aktuelle Version des Programms, auf den Markt. Entwickelt beispielsweise ein Unternehmen die Fenstertechnik, muß das Textprogramm insofern angepaßt werden, als nun mehrere Fenster auf dem Bildschirm, sogenannte Frames, Informationen enthalten. Doch wie ist es möglich, die einzelnen Fenster auseinanderzuhalten? Wie ist es möglich, durch einen Klick auf einen Link im linken Fenster die Information zu bekommen, die sich im rechten Fenster ändert?

Online-Agenturen denken bislang wenig darüber nach, ob neuentwickelte Seiten für Blinde sinnvoll sind. „Daß es ein Internet für Blinde gibt, ist mir neu. Für uns ist zunächst wichtig, daß die Web- Sites in jedem Browser ähnlich aussehen“, sagt Sebastian Brauss, der für die Multimedia-Agentur elephant seven in Hamburg Seiten ins Netz bringt.

Dennoch gibt es ein attraktives Internetangebot für Blinde. Ob „Kathys newsstand“, ein virtueller Zeitungsladen von Kathy Murtha, das Royal National Institute for the Blind (RNIB), Ausbildungstips oder Bücherlisten: das Internet eröffnet Blinden interessante Angebote im World Wide Web. Der „Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf“ (DVBS) in Marburg ermöglicht den einfachen Zugang zu diesen Angeboten. Zusammen mit der Computerfirma IBM Deutschland entwickelte er EASY – ein elektronisches Auskunfts- und Dialogsystem, das auf blinde Menschen ausgerichtet ist und Internet-Begeisterten Tips für einen leichten Einstieg in das World Wide Web bietet.

Inzwischen ist Michael Lang ein begehrter Ansprechpartner im Netz: 150 bis 200 E-Mails warten täglich in seinem elektronischen Briefkasten – sowohl private Briefe als auch Nachrichten aus der Mailing-Liste „fblinu“, die für blinde und sehbehinderte Internetnutzer geschaffen wurde. Andreas Schmitz

andreas.schmitz@hamburg

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