: Das Dayton-Gebäude ist schon marode
Der „Architekt“ des Bosnien-Abkommens reist durch das ehemalige Jugoslawien. Die Erwartungen an eine Wiederbelebung des Friedensprozesses sind hoch – zu Unrecht ■ Aus Genf Andreas Zumach
Wenn ein erst vor knapp zwei Jahren gebautes Haus bereits vom Einsturz bedroht wäre, würde mit Sicherheit auch die Verantwortung des Architekten untersucht und dieser möglicherweise haftbar gemacht werden. Anders im Fall des Bosnien-Abkommens von Dayton. Dessen „Architekt“ Richard Holbrooke genießt weiterhin fast überall einen guten Ruf: „Erfolgreicher Diplomat und Troubleshooter“, „gewiefter und seinen balkanischen Gegenübern ebenbürtiger Unterhändler“ – so und ähnlich lauten die Etiketten, mit denen Holbrooke anläßlich seiner derzeitigen Reise nach Ex- Jugoslawien wieder hochgelobt wird.
Allein der Name Holbrooke schafft bereits die Erwartung, es gebe eine substantielle neue Initiative der USA zur Durchsetzung nach wie vor unerfüllter zentraler Bestimmungen des Dayton-Abkommens. Doch davon kann keine Rede sein. Um sich über die aktuelle Lage zu informieren, bedarf es der Gespräche mit dem bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović, seinen kroatischen und serbischen Kollegen Franjo Tudjman und Slobodan Milošević sowie der Präsidentin der bosnischen Serben, Biljana Plavšić und anderen nicht. Und wie wenig Ermahnungen und folgenlose Androhungen von Sanktionen bewirken, hat erst im Juni die Reise von US-Außenministerin Madeleine Albright gezeigt.
Washington ist über Bosnien gut informiert
Zudem ist die US-Regierung über die Bedingungen vor Ort bestens im Bilde. Die regelmäßigen Berichte, die Botschafter Peter Gailbraith in Zagreb, sein Sondergesandter im westherzegowinischen Mostar und seine Amtskollegen in Sarajevo und Belgrad nach Washington schicken, sind detailliert und sprechen eine klare Sprache. In diesen Berichten werden die Gründe für das Scheitern zentraler Bestimmungen des Dayton-Abkommens eindeutig benannt und die hierfür in erster Linie Verantwortlichen in Belgrad, Zagreb, Pale und Mostar benannt.
Unter den US-Diplomaten vor Ort gibt es auch klare Vorstellungen über die Druckinstrumente, die einzusetzen wären, um zum Beispiel die anhaltende Unterstützung der kroatischen Nationalisten in Mostar, Jajce und anderen Orten durch die Regierung Tudjman in Zagreb zu beenden: Ausschluß Kroatiens von internationalen Sportveranstaltungen; Empfehlung der westlichen Regierungen an ihre BürgerInnen, Kroatien als Urlaubsland zu meiden; Suspendierung der Mitgliedschaft Kroatiens im Europarat und anderen multilateralen Institutionen; Sperrung aller internationalen Kredite und Finanzhilfen sowie Wirtschaftssanktionen.
Ähnlich aufschlußreich wie die Berichte der US-Diplomaten sind die Reporte amerikanischer SFOR-Soldaten und Geheimdienstler aus der Republika Srpska. Sie informieren Washington regelmäßig über die Aufenthaltsorte von Radovan Karadžić, General Ratko Mladić und anderen als mutmaßliche Kriegsverbrecher mit internationalem Haftbefehl gesuchten Personen. Die Autoren dieser Berichte sind überzeugt, daß die Festnahme dieser Personen durch die SFOR oder Spezialkommandos ohne große Eigenverluste durchführbar wäre.
Doch trotz aller in Washington, Bonn und anderen Hauptstädten geäußerten Frustration über die schleppende Umsetzung des Dayton-Abkommens ist weder mit der Festnahme der mutmaßlichen Kriegsverbrecher zu rechnen noch mit konsequentem Druck auf Milošević und Tudjman. Denn zwei Grundkonstanten sind unverändert: das Dayton-Abkommen wurde nur möglich nach sehr weitreichenden Absprachen Holbrookes und seiner damaligen vier Kollegen in der Bosnien-Kontaktgruppe (USA, Rußland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland) im Frühjahr und Frühsommer 95 mit der serbischen und kroatischen Regierung über die Schaffung ethnisch weitgehend homogener Großregionen in Bosnien und Kroatien. Konkrete Folgen dieser Absprachen waren das Massaker von Srebrenica und die Vertreibung Zehntausender Muslime aus den ostbosnischen Enklaven durch die Serben im Juli 95 sowie die Vertreibung von rund 200.000 Serben aus Westslawonien und der Krajina durch die Armee Kroatiens im Mai und August 95. Die Festnahme zentral verantwortlicher serbischer und kroatischer Kriegsverbrecher in Bosnien sowie massiver Druck auf Milošević und Tudjman könnten dazu führen, daß diese Absprachen und Zusammenhänge endlich vor dem Internationalen Tribunal in Den Haag ausgebreitet werden.
Zum zweiten leidet die Umsetzung des Dayton-Abkommens an seinem zentralen Widerspruch: Mit dem Abkommen wurde im Dezember 95 der Erhalt des gesamtbosnischen Einheitsstaates bekräftigt und feierlich garantiert, zugleich aber erstmals die Existenz zweier „Teileinheiten“ mit sehr weitgehenden Kompetenzen völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben.
Verändert haben sich seitdem allerdings die äußeren Umstände. Und das erklärt Holbrookes Reise zum jetzigen Zeitpunkt. Die Clinton-Administration steht unter wachsendem Druck des Kongresses, ihre SFOR-Soldaten spätestens im Juli 98 abzuziehen. Mit Blick auf die Kongreßwahlen im November nächsten Jahres dürfte dieser Druck weiter zunehmen. Auch wenn in London und einigen anderen westeuropäischen Hauptstädten öffentlich zum Teil noch anders geredet wird: Allen Beteiligten ist klar, daß der Abzug der US-Soldaten das Ende der SFOR bedeutet und daß es dann auch keine Nachfolgetruppe mehr geben wird. Eine militärische Mission allein der EU-Staaten, Rußlands und einiger osteuropäischer Länder ist eine reine Fiktion. Daran wird in Bonn, Paris, London und Moskau zumindest intern kein Zweifel gelassen.
Vor diesem Hintergrund soll Holbrookes Reise dem Kongreß und der Öffentlichkeit noch einmal das Engagement der Clinton- Administration für eine politische Lösung der Probleme in Bosnien vorspiegeln. Zugleich dient die Reise zur Vorbereitung der Rechtfertigung einer militärischen „Lösungs“-Option für den Zeitpunkt, da die politischen Bemühungen endgültig für gescheitert erklärt werden. Die gezielt zum Auftakt der Holbrooke-Reise lancierte Kritik der Clinton-Administration an dem internationalen Chefkoordinator für den Wiederaufbau Bosniens, dem Spanier Carlos Westendorp, soll dabei den Boden dafür bereiten, den Europäern die Schuld für das Scheitern der politischen Bemühungen zuzuweisen.
Die Reise hat auch innenpolitische Ursachen
Die militärische „Lösungs“-Option für Bosnien bereiten die USA mit ihrem Ausbildungs- und Ausrüstungsprogramm für die Streitkräfte der muslimisch-kroatischen Föderation seit geraumer Zeit systematisch vor. Karten mit einer neuen Grenzziehung in Bosnien, bei der die Republika Srpska auf etwa die Hälfte bis zwei Drittel ihres heutigen Territoriums reduziert und die muslimisch-kroatische Föderation entsprechend vergrößert würde, werden in Sarajevo bereits eifrig gezeichnet.
Angesichts der nach wie vor erheblichen Differenzen innerhalb der Föderation bleibt für Washington allerdings unkalkulierbar, ob die Föderationsarmee tatsächlich eines Tages gemeinsam agieren wird oder ob Muslime und Kroaten die derzeit von Washington gelieferten Waffen nicht wieder gegeneinander einsetzen. Sicher ist nur, daß die Vorbereitung der militärischen „Lösungs“-Option in den verbleibenden zwölf Monaten bis zum Abzug der SFOR zunehmend für offene Konflikte zwischen den USA einerseits und ihren Nato-Partnern und Rußland andererseits sorgen dürfte.
Mit Ausnahme der vorläufigen Beendigung des Krieges ist die Situation in Bosnien, Kroatien und Serbien seit dem Dayton-Abkommen also unverändert geblieben. Die internationale Gemeinschaft macht zudem in der Bearbeitung der Konflikte dieselben Fehler wie seit 1991. Damit sind erneute, massive Auseinandersetzungen zwischen den wichtigsten Akteuren dieser Gemeinschaft nur noch eine Frage der Zeit.
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