: Orthographie ist nicht von Gott oder Natur gegeben
■ Wenn nur eins der Oberverwaltungsgerichte auf einer gesetzlichen Grundlage für die neuen Schreibregeln beharrt, wollen die Kultusminister einen Staatsvertrag
„Genaugenommen verwalte ich hier nur Wolfgang Gerhardts Erbe“, bemerkte sarkastisch der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), der Niedersachse Rolf Wernstedt, als am vergangenen Donnerstag das Verwaltungsgericht Hannover für Niedersachsen die weitere Anwendung der neuen Rechtschreibregeln untersagt hatte.
Der heutige FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt war im Jahre 1988 hessischer Kultusminister und damals auch jener Präsident der Kultusministerkonferenz, unter dem Anfang Dezember 1988 durch einstimmigen KMK-Beschluß genau die Änderung der Rechtschreibregeln auf den Weg gebracht wurde, die die Freidemokraten nun in vorderster Front bekämpfen.
FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle hat gestern erstmals einen Antrag im Bundestag gegen die Rechtschreibreform angekündigt. Im Herbst solle das Bonner Parlament beschließen, daß die Bonner Amtssprache nicht den neuen Regeln zu folgen braucht. Ein solcher Beschluß, der das einstimmige Ja zu den neuen Schreibregeln der Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder korrigieren würde, wäre natürlich das Aus für die Reformbemühungen.
Die neuen Schreibregeln, die nur ein Prozent des Schriftbildes tatsächlich ändern, will nun auch Wolfgang Gerhardt selbst in den Parlamenten diskutiert sehen. Schon im Juli dieses Jahres hatte der FDP-Chef gegenüber Bild die von den Kultusministern beschlossenen Regeln als „künstlich“ kritisiert und sie im Widerspruch zu einer „ständigen natürlichen Fortentwicklung der Sprache“ gesehen.
„Besonders wenig natürlich war und ist die Rechtschreibung“, schrieb daraufhin der Vorsitzende der seinerzeitigen Reformkommission und Vorstand des Instituts für Deutsche Sprache, Prof. Gerhard Stickel, an den sehr geehrten Herrn Dr. Gerhardt. Erinnerte ihn daran, daß die derzeit geltende Orthographie nicht von der „Natur oder Gott gegeben“ wurde, sondern eine „staatlich verordnete Norm der wilhelminischen Zeit“ sei, die durch die Duden-Redaktion „seit 1902 durch Eingriffe und viele Einzelregelungen erweitert und verkompliziert“ wurde.
Professor Stickel erinnerte den FDP-Chef auch daran, daß der KMK-Präsident Wolfgang Gerhardt seinerzeit im Oktober 1988 „mit Lob und Dank“ die Vorschläge zur Rechtschreibreform entgegengenommen hatte und die Kommission anschließend zum gemeinsamen Essen in die hessische Landesvertretung in Bonn einlud.
Dem derzeitigen KMK-Präsidenten Rolf Wernstedt war am vergangenen Donnerstag die Last des Gerhardtschen Erbes noch anzusehen. Vordringlich mit der beruflichen Bildung hatte sich der niedersächsische Kultusminister in seiner Amtszeit als KMK-Präsident ursprünglich befassen wollen, nun ist er ständig als Talk-Show- Gast und Interviewpartner in Sachen neue Rechtschreibung unterwegs. Natürlich hält Wernstedt ein Scheitern des in den Augen aller Kultusminister „unwesentlichen Eingriffs in die Sprache“ für eine Katastrophe. Schließlich sind alle, die professionell mit Schule zu tun haben, für die Reform: der Bundeselternrat genauso wie die Lehrerverbände vom rechten Philologen bis hin zur GEW.
Aus den Schulen, an denen nicht nur in Niedersachsen schon seit einem Jahr größtenteils nach den neuen Regeln unterrichtet wird, kommen höchst erfreuliche Rückmeldungen über die Regelvereinfachung, die den notorisch rechtschreibschwachen Kleinen doch ein gutes Stück Paukerei erspart.
Dennoch sieht auch Wernstedt die neuen Schreibregeln auf der Kippe. Aus Anlaß des Urteils des hannoverschen Verwaltungsgerichtes hat er noch einmal alle erreichbaren Kultusministerkollegen angerufen: „Bisher steht die Front“, sagt der KMK-Präsident. Aber es seien schon Vorwahlzeiten, und die Gegner der Rechtschreibreform schätzt Wernstedt auf „drei Viertel der Bevölkerung“. Da sei auch zweifelhaft, ob „alle SPD-regierten Länder ihr Ja zur neuen Rechtschreibung auf Dauer durchhalten“.
Ob unabhängig vom Vorstoß der Freidemokraten im Bundestag nun die neue Rechtschreibung per Gesetz eingeführt werden muß, wird sich bald entscheiden. Die Oberverwaltungsgerichte sind bei Eilverfahren, bei Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz, die letzte Instanz.
Wenn nur eines dieser Obergerichte auf einer gesetzlichen Grundlage für die neuen Schreibregeln beharrt, wollen die Kultusminister der Länder entweder einen Staatsvertrag zur Rechtschreibreform oder eine bundeseinheitliche Änderung aller Schulgesetze auf den Weg bringen; ein, zwei Sätze in allen Schulgesetzen würden dabei genügen, so die einhellige Meinung.
Gegen die dritte Möglichkeit – über ein Bundesgesetz zur Amtssprache die neue Rechtschreibung zu unterfüttern – machen die Liberalen gerade Front. In Niedersachsen will das Oberverwaltungsgericht Lüneburg noch vor Ende der großen Schulferien am 28. August darüber entscheiden, ob die Einführung der neuen Schreibregeln per Erlaß und ohne ein spezielles Gesetz rechtmäßig ist. Jürgen Voges, Hannover
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