Vom schniefenden Käpt'n

■ Zum Jahrestag des Mauerbaus: „Fluchtgeschichten“ – über Versuche, die Berliner Mauer zu überwinden (23 Uhr, N3)

„Man hat uns verschleppt“, preßt der massige Mann in tadelloser Uniform mühsam hervor. Das kann der 84jährige Käpt'n Paul Scholz bis heute nicht verwinden; Er kämpft mit den Tränen, obwohl das Ereignis schon 35 Jahre zurückliegt. „Man“, das war seine Crew. Die hatte ihn am 7. Juni 1962 beduselt gemacht und seinen schönen Spreedampfer „Friedrich Wolf“ (den's immer noch gibt, der nun aber „Thüringen“ heißt) in Berlin-Treptow gleich nach der Elsenbrücke und kurz vor dem Osthafen eigenmächtig scharf backbord volle Kraft voraus in den Landwehrkanal und damit in den Westen gesteuert. Unter dem Kugelhagel der am Ostufer stationierten Roten Armee wie auch der West-Berliner Polizei, die das Feuer unverzüglich erwiderte, gelang so den Matrosen, ihren Frauen und einem Baby, insgesamt 14 Menschen, dem real existierenden Sozialismus Pankower Prägung zu entfliehen.

Im Westen machte das seinerzeit fette Schlagzeilen, im Osten trat prompt die Stasi auf den Plan. Die knöpfte sich Käpt'n Schulz vor, glaubte ihm schließlich zwar, daß er von dem Fluchtplan nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte, veranlaßte aber trotzdem seine Strafversetzung ins ferne Sachsen. Steuermann Dieter Mehnke, der im Stasi- Verhör standhaft geblieben war, weil „Kumpelsverpfeifen bei mir nicht drinne ist“, war zwei Monate später doch noch verhaftet und für eineinhalb Jahre ins Gefängnis gesteckt worden wegen „Nichtanzeigens eines Staatsverbrechens“.

Fluchtgeschichten wie diese, auch gescheiterte und solche von Jugendlichen, die selber kaum älter waren als dieses abstruse Bauwerk vor den Fenstern ihres Klassenzimmers an der Heinrich-Heine-Straße, hat Autorin Karin Ludwig im vorigen Jahr für den Hauptstadtsender aufgesammelt. Auch wenn die Auswahl etwas mager und zufällig erscheint, der Tiefgang ihrer Aufarbeitung es mit dem des Ausflugschiffes „Friedrich Wolf“ alias „Thüringen“ nicht unbedingt aufnehmen kann, und die Autorin obendrein behauptet, die Erinnerung an die nimmermüden Absatzaktivitäten sei „eher beiläufig“. Das mag man angesichts des schniefenden Kapitäns nun wirklich nicht glauben.

Was dennoch an Authentischem rüberkommt, ist nicht zu unterschätzen. Derlei Mosaiksteinchen sind, wie ja auch der Streit um die Mauergedenkstätte zeigt, viel zu rar gesät, als daß das Puzzle deutsch-deutscher Einsichten wirklich Gestalt annähme. Ulla Küspert