Riskanter Abstieg – Unfallserie in den Alpen

■ Gespräch mit dem Bergexperten Karl Schrag vom Deutschen Alpenverein

taz: Innerhalb eines Monats verunglückten in den Alpen mehr als 50 Wanderer und Kletterer. Warum häufen sich derzeit die Abstürze?

Karl Schrag: Jetzt ist die Hochsaison des Bergsteigens. Wir hatten ungewöhnlich starke Regenfälle, die kamen im Hochgebirge als Schnee herunter. Der Schnee festigte sich aber nicht mehr, weil die Temperaturen dann wieder stiegen. Dadurch entstanden kleine Naßschneelawinen, die können auch erfahrene Leute treffen.

Welche Fehler machen die Menschen im Gebirge?

Die meisten Unfälle sind Wanderunfälle, Abstürze. Da genügt schon ein Fehltritt auf einem exponierten Weg, ein Ausrutscher zur Seite, und schon verliert der Wanderer den Halt und stürzt ab. Der Weg selbst muß gar nicht schwer sein, aber wenn es 30 Zentimeter daneben in die Tiefe geht, dann reicht eben schon ein Stolpern.

Haben die Leute zu wenig Übung im Bergsteigen?

Man kann das richtige Steigen lernen. Es ist uns ein Anliegen, daß wir den Leuten beibringen, richtig zu steigen, auch wenn Geröll herumliegt und der Weg glitschig ist. Dazu bieten wir Kurse an.

Warum gibt es so viele Abstürze bei Regenwetter?

Es ist immer problematisch, wenn überraschend starker Regen einsetzt. Die Nässe genügt, daß der Weg schwieriger, die Grashänge rutschig werden. Vor allem aber versetzt starker Regen die Leute oft in Panik. Die Sicht wird schlecht, die Brille beschlägt, die Leute fangen an, sich hastiger zu bewegen, versuchen zu laufen, obwohl sie gerade jetzt vorsichtiger sein und auf den Tritt schauen müßten.

Wie gefährlich sind Gewitter?

Der Blitzschlag spielt eine große Rolle. Wir hatten kürzlich in der Schweiz am späten Vormittag ein Gewitter, das war nicht angesagt, da gab es drei Einschläge, mit einem Toten und zwei Verletzten. Der Mensch ist im Gewitter ein exponierter Punkt, beispielsweise auf einer Gletscherfläche. Ein Risiko sind auch die Erdströme beim Blitzschlag. Wenn man mit den Füßen auf dem Weg steht und sich mit den Händen einen halben Meter darüber abstützt, dann kann selbst ein Blitzschlag in der Nähe erhebliche Erdströme durch den Körper schicken.

Warum stürzen Kletterer ab. Die sind doch am Seil gesichert?

Kletterabstürze machen vielleicht ein Drittel der Bergunfälle aus, passieren also seltener als Wanderunfälle. Viele Abstürze geschehen beim Abstieg. Man seilt sich ab, klettert aber auch über steile Stellen ohne Sicherung einfach herunter. Da kann es dann passieren.

Oft stürzen Seilschaften gemeinsam ab. Warum?

Wenn die Leute angeseilt zusammen abstürzen, dann haben sie einen Fehler gemacht. Wir versuchen den Leuten immer klarzumachen, daß sie nur dann gemeinsam am Seil gehen, wenn mindestens einer an einem Fixpunkt gesichert ist. Es kommt immer wieder vor, daß die Leute über steile Schneehänge miteinander angeseilt gehen, sich an den schwierigen Passagen sichern, aber an den leichten Passagen eben nicht. Wenn dann einer ins Rutschen kommt, reißt er die anderen mit. Die Seilschaftsabstürze sind zwar zurückgegangen, aber sie kommen immer wieder vor. Interview: Barbara Dribbusch