Offene Haut, offene Gefühle

■ Tattoos, Piercing und S/M im Tivoli: auf der Suche nach neuen Ritualen

Die Erotik dieser Gesellschaft, zwischen selbstbewußter Verklemmtheit des Singletums und wuchernder Experimentierfreude wild hin und her schwankend, ist rätselhafter denn je; trotz der Sturzfluten indiskreter Selbstauskünfte allerorts. Ein bißchen neugierig durfte man dann schon sein: was passiert, wenn ein Hauch von „Liebe Sünde“und „peep“, von Sat 1 und RTL 2 live nach Bremen kommt? Dann strömen die Massen herbei!-? Keineswegs. Dann fangen Augen an zu glänzen!-? Aber nein. Dann vibriert die Luft!-? Ganz und gar nicht.

Halb mit sanfter Belustigung, halb mit gemäßigter Langeweile flanierten etwa 100 Menschen über 18 zwischen den Piercing- und Tattoo-Ständen der „3. Bremer Tattoo- und Erotikparty“im Tivoli. Mit interesselosem Wohlgefallen verfolgte man die mau choreographierten Demonstrationen einer Bremer Kampfsportschule und die unbeholfen moderierte Wahl des schönsten Tattoos. (Übrigens: ein fetter, bunter Schulterdrache siegte.)

Doch dann kamen Frank und Nicky.

Sie stechen sich Nadeln durch die Haut, angefangen beim Unterarm, zu immer sensibleren Stellen vordringend, Stirn, Leiste, Schwanz, Zunge. Es geht um Selbstüberwindung, um Abhärtung und die Bewältigung von Angst und Schmerz, lauter Dinge, die man im Alltag eines ausgehenden Jahrtausends verdammt gut brauchen kann; denkt man. Stimmt aber nicht.

„Das Stechen macht dich nicht hart. Eher sensibel. Zum Beispiel für die Befindlichkeiten anderer Menschen“, erzählt Nicky. „Du siehst jemanden, und plötzlich meinst du genau zu wissen, was in diesem Menschen vorgeht.“Also nicht Furchtlosigkeit das hehre Ziel??? „Ich hatte große Höhenangst, – und habe sie immer noch.“Und Frank? „Abhärtung funktioniert ganz prinzipiell nicht. Wenn du dich darum bemühst, wirst du nur noch verletzlicher. Der Körper wehrt sich dagegen.“

Was dann? Es geht gar nicht um den Schmerz. „Eine Spritze, von einem ungeschickten Arzt gesetzt, tut mehr weh.“Trotzdem geht der Körper in Gefechtsstellung und produziert Endorphine. Mit der Nadel gehen Frank und Nicky auf die Suche nach neuen Gefühlen. Eine Alternative zu Kunst einerseits, Drogen andererseits.

Der Körper ist für die Fakire keine Naturkatastrophe mehr, der man hilflos ausgeliefert ist; er ist formbar. Versucht sich der Bodybuilder an der Fassade, bemühen sie sich um das Inwendige, die Biochemie. „Wir betrachten das als Kunst“, mein Nicky. In der Tat hat der Versuch des Öffnens der Gefühle durch das Öffnen der Haut Tradition in der Avantgarde. Die österreichische Radikalperformerin Valie Export bediente sich dieser Strategie ebenso wie Günter Brus, der einzig interessante Vertreter des um Entklemmung bemühten Wiener Aktionismus.

Frank und Nicky sehen sich jedoch eher in einer Linie mit den Naturvölkern stehend. „Das Durchstechen der Wangen zum Beispiel ist ein Ritual der Yanonami-Indianer. Wir verstehen unsere Show auch als Referenz an aussterbende Kulturen.“„Die spinnen richtig“, meint dagegen ein Mann im Publikum. „Naja, wer's nötig hat“, höhnt seine Begleitung. Im Grunde aber sind Frank und Nicky deutlich weniger verrückt, als alle Motorradfahrer, Leistungssportler, Segler dieser Welt, die sich ihren Kick für viel Geld, mit großem Aufwand und der Gefahr zermantschter Gliedmaßen und gerissener Sehnen erkaufen. Beim Stechen fließen zwei, drei Tropfen Blut. So gesehen eine höchst vernünftige, ökonomische Angelegenheit, harmloser als Bier sowieso.

Nimmt man die durchaus mutigen Selbsterkundungen der beiden ernst, dann müßte man bestimmte Initiationsrituale vielleicht neu deuten: nicht mehr martialisch als Härteprüfungen, sondern als Expeditionen zu neuen, angenehmen Gefühlen.

Und auch Tattoos und Piercings sind nicht nur doof, stellen sie doch eine erfreuliche Alternative dar zu den flüchtigen Selbststilisierungen, die die Modeindustrie bietet.

Barbara Kern