: Die große Sehnsucht nach Sympathie
Rudolf Scharping ist nach dem Putsch von Mannheim 1995 ein anderer Mensch geworden. Der treue Parteisoldat aber ist er geblieben. Ganz leise arbeitet er an seinem Ziel: Er möchte Bundeskanzler werden ■ Von Markus Franz
Lange Zeit war es wie ein Ritual. Irgendein Journalist fand sich immer, der Rudolf Scharping fragte, wie er denn den Zustand der SPD beurteile, jetzt, da er nicht mehr Parteichef sei. Dann wurde es immer ganz still im Raum. Wischt er Lafontaine endlich eins aus? Aber Rudolf Scharping lehnte sich zurück, die Arme über dem Kopf verschränkt, und sagte mit starrer Miene die immergleichen Worte: „Die SPD steht heute besser da als vor Mannheim. Mehr sage ich dazu nicht.“ Heute wird die Frage kaum noch gestellt, aber wenn, dann beugt sich Scharping schon mal vor, schaut seinen Gegenüber offen an und sagt mit erregter Stimme: „Manchmal kommt es mir immer noch hoch.“
21 Monate nachdem der Fraktionschef der SPD auf dem Parteitag in Mannheim den Vorsitz der Partei an Lafontaine verlor, ist die Wunde immer noch nicht verheilt. Das mag manchem nicht mehr als ein müdes Lächeln abringen, aber Rudolf Scharping ist schließlich kein Privatmann. Und so könnte sein Wehwehchen doch noch ungeahnte Folgen für die Republik haben. Befreit von der Doppelbelastung als Partei- und Fraktionschef und im Windschatten von Oskar Lafontaine vor Medienschelte relativ geschützt, versucht er nicht weniger, als sich und sein Leben zu ändern. Er will lockerer werden, offener, „authentischer“, wie er selbst sagt: Das alles macht er, weil er sich so besser fühlt, aber auch, weil er immer noch ein Ziel vor Augen hat: Rudolf Scharping möchte Bundeskanzler werden.
Bundeskanzler? Der Tour-de- France-Berichterstatter? Wie so viele vor ihm will Scharping aus seiner größten Niederlage lernen. Er sieht ein, früher zu gehemmt, zu hölzern gewesen zu sein. Er habe sich für niemanden richtig Zeit genommen und dadurch Distanz zu den Menschen aufgebaut. Nachdenklich berichtet er, wie ihm eine Studentin gesagt habe, früher sei er ein Kunstprodukt gewesen. Scharping weiß inzwischen, woran das lag. Er hat sich zu sehr unter Druck gesetzt: „Ich wollte immer alles selber machen.“
Aber Selbsterkenntnis ist nur der erste Schritt, und selbst der könnte größer sein. Mannheim ist auch ein Klotz am Bein. Die emotionale Belastung wirkt ähnlich wie Liebeskummer. Vielleicht schlimmer. Denn mit den Menschen, die Scharping für seinen Sturz als Parteichef verantwortlich macht, muß er nicht nur weiter zusammenarbeiten – er muß ihnen gegenüber auch noch loyal sein.
Und wie ein Liebeskranker, der zu nüchterner, distanzierter Beurteilung nicht vollständig in der Lage ist, verfällt er immer wieder der Versuchung, diesen anderen die Verantwortung zuzuschieben. So etwa, wenn er, der schon mit 43 Ministerpräsident und mit 45 Partei- und Fraktionschef war, einräumt: „Ich bin zu schnell gewachsen“, und dann hinzufügt: „so schnell, daß aus Konkurrenten Neider wurden.“ Sind also doch nur die Konkurrenten schuld?
Sein Scheitern als Parteichef erklärt er damit, „zu harmoniebedürftig und zuwenig kompromißbereit“ gewesen zu sein. Doch attackiert er damit nicht diejenigen, die ihm diese Eigenschaften als nachteilig auslegen? Ein hoher Genosse sagt: „Viel wird bei der Entwicklung von Rudolf Scharping davon abhängen, ob er einsieht, daß er selbst für Mannheim verantwortlich ist.“
Die Fehlersuche fing bei Äußerlichkeiten an. Scharping hörte mit dem Rauchen auf und ließ sich den Bart abrasieren. Alte Verhaltensmuster legte er nicht so schnell ab. Als ihn vor einem Jahr der inzwischen verstorbene Hamburger Verleger Henri Nannen die schlichte Frage stellte, ob die Rasur psychologische Gründe habe, antwortete Scharping zunächst mit dem persönlichen Bekenntnis: „Ich bin freier geworden.“ Gleich darauf verfiel er in den alten Politjargon: „Wir mauern uns nicht mehr ein.“
Jetzt scheint sich tatsächlich etwas zu bewegen. Damals bemühte sich Scharping, freier zu sein, heute fühlt er sich wirklich freier. Er läßt zunehmend sein Wesen zu, das eben nicht das des Strahlemanns ist. Scharping, so beschreiben ihn Freunde, ist eigentlich ein ernsthafter, gelegentlich melancholischer Mensch. Er „dröhnt nicht mehr soviel“, sagt ein alter Weggefährte. Bis vor kurzem fiel er dadurch auf, kleine Scherzchen zweimal zu erzählen, wenn beim ersten Mal niemand lachte. Auch das läßt er zunehmend sein.
Scharping verfolgt eine neue Strategie: Statt sich in den aktuellen, teilweise aggressiven Diskussionen zu verschleißen, stellt er sich im Hintergrund lieber als menschlicher, aufgeschlossener, verständnisvoller, fortschrittlicher Politiker dar und will dadurch beharrlich Punkt für Punkt sammeln. Für seine Gesprächspartner läßt er sich inzwischen deutlich mehr Zeit. Die Veranstaltungsreihe „Gespräche über die Zukunft“, in der sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit Prominenz aus dem In- und Ausland austauscht, hat er ins Leben gerufen. Immer häufiger trifft er sich in Universitäten mit Studenten und Professoren. Statt mit einer eigenen Rede zu beginnen, steigt er direkt in die Diskussion ein. Und seine Berichterstattung von der Tour de France dürfte seiner Popularität auch nicht geschadet haben. Im Bonner Politikbetrieb bringt ihm so etwas, das weiß er, nahezu keine Punkte. In den letzten Monaten erntete er nur zweimal ein großes Medienecho: Mit seiner Forderung nach einer Abgabe für Millionäre und einem Foto, daß ihn eng umarmt mit einem Bergbaukumpel zeigt. Doch gerade die Zeit des Streiks im Revier hat Scharping besonders genossen. Da hat er gespürt, wonach er sich so sehr sehnt: Sympathie. Und genau das könnte die Waffe sein, mit der er sich von seinen Kollegen Schröder und Lafontaine absetzen kann. Und so stellt Scharping immer wieder heraus, wie anständig er doch im Vergleich zu anderen ist.
Er läßt durchblicken, daß er die plötzliche Absage des Steuergipfels durch den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Heinz Schleußer während des Streits um die Kohlesubventionen als ungehörig empfand, ohne das so deutlich auch auszusprechen. Vor Gewerkschaftern kritisierte er emotional den rüden Umgang von Politikern miteinander. Verächtlich zieht er über Machtpolitiker her, die unkooperativ sind und allein auf Hierarchien setzen, die den „unbändigen Drang haben, die Nummer eins zu sein“. Als Beispiel dafür nennt er Helmut Kohl. Aber sind damit nicht auch Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder gemeint?
Er selbst, das betont er immer wieder, sei ganz anders. Schließlich habe er „häufig in der zweiten Reihe gearbeitet“. So etwa als Geschäftsführer im SPD-Landesverband und in der rheinland-pfälzischen SPD-Fraktion. Er betont: „Da habe ich eine dienende Rolle übernommen.“ Scharping führt auch seine Kindheit an: In einer Familie mit sieben Kindern, der Vater war zwischenzeitlich arbeitslos, habe er sich durchbeißen müssen – und gelernt, „Rücksicht zu nehmen“. Wieder ein Seitenhieb auf die lieben Genossen.
Konkreter will er sich nicht äußern. Er könnte wohl kaum ein offenes Wort zum Mannheimer Parteitag sagen, ohne seine Partei damit in große Schwierigkeiten zu bringen. Also lieber schweigen. Insbesondere über Gerhard Schröder. Lafontaine, der einigen als der eigentliche Putschist von Mannheim gilt, sieht Scharping als das kleinere Übel von beiden. Lafontaine löste ihn zwar als Parteivorsitzenden ab, erntete damit aber nur, was andere gesät hatten. Und so graust es Scharping davor, daß Lafontaine Kanzlerkandidat werden könnte – aber vor der anderen Variante graust es ihn viel mehr: daß es Schröder schafft.
Dabei würde Scharping liebend gerne auspacken und der Welt beweisen, daß er vor allem an der Illoyalität seiner Partei gescheitert ist. Nur im kleinen Kreis sagt er: „Lafontaine hat fünf loyale Stellvertreter, ich hatte nur drei.“ Im Grunde hält sich Scharping für den besten aller Sozialdemokraten. Wenn man ihn fragt, ob er von sich selbst überzeugt sei, antwortet er genüßlich mit einem langgezogenen „Jaah“. Vor einigen Monaten sagte er in einem Interview: „Ich kann das Amt des Bundeskanzlers ausfüllen.“ Häufig spricht er davon, daß die SPD 20 Jahre lang nicht mehr so nah an die CDU herangekommen sei, wie mit ihm als Kanzlerkandidaten. Und bei jeder Gelegenheit verweist er darauf, daß er diese oder jene Entwicklung schon vor Jahren entweder angestoßen oder gewußt habe.
Der „treue Parteisoldat“, wie Scharping sich selbst nennt, ist aber zu loyal, um Unruhe in die Partei zu bringen. Zunehmend kommt Souveränität dazu, wie eine Begebenheit im Bonner Uniclub Anfang des Jahres zeigte. Helmut Schmidt war Gast bei der von Scharping ins Leben gerufenen Veranstaltungsreihe „Gespräche über die Zukunft“. Beiläufig ließ Scharping einleitend fallen, er danke dem Altbundeskanzler, daß er „seiner“ Einladung gefolgt sei. Nicht weniger beiläufig erwähnte Lafontaine später, wie gut doch „seine“ Idee gewesen sei, Helmut Schmidt einzuladen. Wieder griff Scharping den Faden auf und stellte fest: „Die Idee kam von Oskar, die Einladung von mir.“
Dabei wird Scharping die Loyalität nicht immer leichtgemacht. Kürzlich behandelte ihn Oskar Lafontaine wie einen Protokollführer. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz nach dem Scheitern des Steuergipfels schilderte der Saarländer ausführlich das Treffen und sagte dann beiläufig. „Rudolf, du hast doch mitgeschrieben, was hat der Kohl denn genau gesagt?“ Dann kam es noch dicker: Auf die Frage eines Journalisten, ob denn die Ministerpräsidenten im Bundesrat die Linie des SPD-Vorsitzenden mittragen würden, entgegnete der Saarländer: „Das haben die in den letzten anderthalb Jahren ja gelernt.“
Doch er begehrt nicht auf. Kaum ein anderer bewahrt soviel Haltung. Als „fast schon unmenschlich“ wurde seine Gefaßtheit auf dem Mannheimer Parteitag beurteilt. Aber er weiß auch, was sonst keiner weiß: Eines Tages wird er es ihnen allen zeigen.
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