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Denken heißt entdecken

Nische, Fabrik, Labor – Wissenschaftsinstitute in Berlin, Teil 3: Das Interdisziplinäre Forschungszentrum für Historische Anthropologie hat die Disziplinlosigkeit zum Programm erhoben  ■ Von Fritz v. Klinggräff

Das Denken ist von menschlicher Größe und Dietmar Kamper von kräftiger Statur. Seinen Bauch wuchtet der Professor neben den Schreibtisch, und daß er sich in Schwarz zeigt, hat mit Existentialismus nichts zu tun: Denken ist eine Sache von Körpern in Räumen. Genauer gesagt: von 18 Männern, die sich jeden ersten Donnerstag im Monat in der Goethestraße im Clubhaus der Freien Universität treffen und das Interdisziplinäre Forschungszentrum für Historische Anthropologie bilden: alle Professoren, die in den Erziehungswissenschaften, in der Komparatistik, Biologie, Philosophie usw. seit Jahren ihr Brot und Ansehen haben.

„Dann“, sagt Dietmar Kamper, „wird etwas vom Zaum gebrochen. Es gibt die heimliche Selbstverpflichtung, ein Thema zu finden, das alle Anwesenden überfordert, wo wir also keinen Experten unter uns haben, der das abserviert.“ Ob sie Wulf, Gebauer, Kamper, Lanzen, Mattenklott oder Todd heißen, die Anthropologen eint die Aufklärungskritik und ein Denken, das Wissensbestände eher skeptisch beäugt. Seit zwei Jahren existiert ihr Institut, manch schönes Thema hatte man am Wickel.

Mit „Arbeit“ war man erstmals an die Öffentlichkeit gegangen, hatte eine Ringvorlesung daraus gemacht. „Soll denn das ganze Leben sich in Arbeit verwandeln?“ hatte man sich gefragt und war zu keiner befriedigenden Antwort gelangt: „Wir müssen da weitermachen. Das Phänomen ist natürlich unglaublich reichhaltig, und wenn man da die Traumarbeit und die Liebesarbeit und die Trauerarbeit mit einbezieht, dann wird der Begriff ganz unspezifisch – aber das Beängstigende daran bleibt.“

So manches, was das Denken an diesem Institut ausmacht, ist damit ausgesprochen. Denken definiert man hier in der Tradition von Deleuze als eine Leidenschaft des Entdeckens: des Erfindens von Begriffen. Der romantische Entwurf aufs Unscharfe, Unendliche ist allgegenwärtig. Die Nase ist diesen Wissenschaftlern das wichtigste Organ: „Die von uns erschnupperten und erwitterten Themen kommen nach und nach. Unsere Erfolge rühren nicht daher, daß wir gut verstanden werden. Die interessanten Fragen brauchen ihre Zeit. Denken auf diese Weise hat was mit Spürsinn zu tun.“ So gibt es am Institut für Historische Anthropologie denn auch viele gute Redner; mit dem Schreiben tut man sich eher zu leicht.

Disziplinlosigkeit ist das Programm: Die Hoffnung geht vielleicht nicht mehr auf das Universelle, wohl aber aufs Durchlässige: „Wir schauen uns an, wie eine Disziplin denkt, und sehen zu, ob das in anderen Disziplinen auch so geht. Wir holen uns zum Beispiel eine Methode aus der Nuklearphysik und erproben sie in der Soziologie. Fragen, von denen man dachte, daß sie erledigt wären, werden so plötzlich wieder aktuell. Zum Beispiel das Problem der Zeit. Man hatte immer gedacht: Ach, das haben wir doch endlich, und plötzlich merkte man, daß das ein ganz besonders schwieriges Kapitel ist. Da haben wir viel mit Naturwissenschaftlern gearbeitet, und die haben uns dann irgendwann gestehen müssen, daß sie in einer ähnlichen Lage sind. Auch sie sind in diesen Fragen nicht kompetent.“

Nicht immer wird im Uni-Clubhaus getagt. Das Denken, weiß man, bedarf des Genius loci; dazu setzen sich die achtzehn Herren mit ihren Gästen auch mal in Bewegung. In Toulouse sprachen sie über „Liebe“, in Venedig über den „Schein des Schönen“, in New York wagten sie einen „Rückblick auf das Ende der Welt“, und im Berliner Literaturhaus diskutierte man zuletzt über „Mißachtung“. Das Forschungszentrum für Historische Anthropolgie ist kein Ort mit abrufbarem Wissen.

Kein Geld von der Universität

Selbst Sympathisanten sind darüber nicht immer glücklich: „Eine an der Praxis orientierte Erziehungswissenschaft“, so der Pädagoge Michael Göhlich, „kommt ohne ein hypothetisches Menschenbild nicht aus. Dies aber ist nun mal mit Dekonstruktion nicht zu haben.“

Die Suche nach Atlantis, auf die man sich vor zehn Jahren machte, bleibt Programm. Das Avantgardebewußtsein ist enorm. Kunde von Patrouillengängen im Unerforschlichen gibt man zwar gern und beredt: in der Zeitschrift Paragrana (Nebenkörnchen) oder in der Publikationsreihe „Historische Anthropologie“. Sonst aber bleibt man lieber unter sich. Entsprechend mißtrauisch blickt die Heeresführung: Geld gibt es von der Uni nicht, selbst den Titel eines Instituts gewährte der Akademische Senat seinen Professoren nur mit knapper Mehrheit. Mißachtung erfuhren die Leute mit ihrem unordentlichen Benennungspathos häufig.

Einmal, Mitte der achtziger Jahre, zog ein Germanist mit Namen Laermann als Meister Propper gegen das Gesindel durch die Medien; der Bekanntheitsgrad stieg seither enorm. In ihre Kolloquien pilgerten nicht nur Studenten, sondern auch das Volk. Und Scharen von Dozenten schlugen sich – wie Rudi Thiessen – hier über Begriffe wie „Posthistoire“ die Köpfe ein oder verdienten sich – wie Ulrich „FAZke“ Raulff – mit Referaten über die französische Historikerschule der „Annales“ erste Meriten.

Der Grund, warum das Institut 1994 trotzdem nur mit Mühe zu akademischen Würden kam, war aber ein anderer. Ein Institut für Anthropologie, befanden die Studenten im Akademischen Senat, sei ein äußerst fragwürdiges Unternehmen. Das gab es nämlich schon einmal. Als „Berliner Anthropologie“ unterschied es in der Fabeckstraße lebens- von lebensunwertem Leben – einer seiner Assistenten hieß Mengele.

Die Professoren vom Zentrum für Historische Anthropologie möchten mit solchen Menschenkundlern nicht verwechselt werden. Dietmar Kamper wird bei diesem Thema gar wieder zum kritischen Theoretiker: „Wer nach dem Was des Menschen fragt, behandelt ihn als Sache. Wer nach seinem Wert fragt, fragt nach seiner Verwertung.“ Am Grunde der Historischen Anthropologie schimmert dunkel und verschlungen die Rhetorik der Negativität: „Ist es nicht möglich, einen Begriff vom Menschen zu entwickeln, der die Unmöglichkeit eines Begriffs vom Menschen begrifflich nachweist?“

Die Zeitschrift „Paragrana“ wird über den Akademie-Verlag vertrieben (Mühlenstraße 33–34, 13187 Berlin); die „Reihe Historische Anthropologie“ mit Titeln von Christoph Wulf, Dieter Lenzen, Gunter Gebauer u.a. erscheint im Dietrich Reimer Verlag.

Postadresse des Interdisziplinären Forschungszentrums für Historische Anthropologie: Arnimallee 11, 14195 Berlin

Teil 1 unserer Serie behandelte das Berliner Goethe-Institut (erschienen am 29.5.), Teil 2 das Institut für Kreatives Schreiben (18. 7.).

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