: Reisen in den Krieg zur Berichterstattung
Was unterscheidet Reporter an Krisenherden von Reiseschriftstellern? Extreme Erfahrungen lassen den Beobachter zum persönlich involvierten Autor werden. Kriegsreportage, die etwas andere Form des Reiseberichts ■ Von Martin Hager
Reportagen sind die literarischen Ausläufer des Journalismus. Literatur ist eine Form von Kunst. Kunst ist bestimmt durch Ästhetik.
Kriegsberichterstattung ist eine Sonderform der Reportage. Krieg ist nicht bestimmt durch Ästhetik.
Eine Kriegsreportage ist ein Bericht von einer Reise, aber nicht von einer, wie sie sich gewöhnlich in den Reisebeilagen von Zeitungen findet. Das wirkt unpassend. Reisen ist etwas Schönes, die Reisebeilagen erscheinen meist am Wochenende, Erholung ist die erwartete Assoziation.
Ein Reporter, der ein Krisengebiet besucht und darüber schreibt, verfaßt damit aber auch einen Bericht über seine Reiseeindrücke und -erfahrungen, selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Mag er auch noch so bemüht sein um Objektivität, es ist immer sein Eindruck, den er schildert, sein Auge ist Zeuge des Geschehens.
Gewöhnlich verbindet man mit dem Genrebegriff „Reisebericht“ Texte von exotischen Orten wie Patagonien, Neuseeland oder dem Bayerischen Wald. Das Abenteuerliche sind meist die skurrilen Typen, denen die Reisenden begegnen, nicht die Gewehrkugeln, denen sie entkommen wollen. Das Grundschema ist aber ähnlich. Der Auslandskorrespondent begibt sich auf die Reise in ein fremdes Land, er will selbst sehen, statt sich auf die Berichte anderer zu verlassen. Will er mit Einheimischen ins Gespräch kommen, braucht er einen Dolmetscher, er muß sich um Übernachtungsmöglichkeiten, Verpflegung etc. kümmern, und wie der Reiseerzähler ist er ständig auf der Suche nach spannenden Ereignissen, denn schließlich ist es Zweck seines Aufenthalts, seine Erfahrungen zu Text zu verarbeiten, um sie – gegen Bezahlung – einer mehr oder minder großen Leserschaft anbieten zu können.
Was die Reporter am Krisenherd von Reiseschriftstellern unterscheidet, die sich gewöhnlich als lonely hunters präsentieren, ist ihr Auftreten in größeren Gruppen. Ausgenommen vielleicht Bagdad, wo Peter Arnett von CNN als einziger den gesamten Golfkrieg über durchhielt, wimmelt es in Kriegs- und Krisengebieten von Reportern.
In Sarajevo beispielsweise hat das Holiday Inn eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil es die zahlreichen internationalen Journalisten beherbergte, die gekommen waren, um direkt aus der belagerten Stadt zu berichten. Bedingt durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit waren die Journalisten aufeinander angewiesen, um das Leben in Lebensgefahr auszuhalten, zumal gerade sie ein beliebtes Ziel der Heckenschützen darstellten. Berichtet wird über andere, gelebt mit seinesgleichen.
Andererseits fällt auf – seit dem Golfkrieg, verstärkt im Hinblick auf Bosnien –, daß in der medialen Verarbeitung des Geschehens die Metaebene, das heißt das Berichten über das Berichten, enormen Raum einnimmt. Zum einen die Kritik an den Medien, ihrer voyeuristischen Praxis und angeblich tendenziösen Berichterstattung (Handke etc.), zum anderen die Selbstreflexion der Journalisten vor Ort, die darüber nachdenken, was es eigentlich bedeutet, Augenzeuge eines Krieges zu sein. Das schreibende Subjekt tritt in den Vordergrund, die Reportage wird zum Reisebericht. Extreme Erfahrungen zwingen dazu, vom Standpunkt des objektiv beobachtenden Reporters zum persönlich involvierten Autor zu werden.
Von der Wahrnehmung der Realität zur veröffentlichten Reportage ist allerdings ein wichtiger Schritt. Die Erfahrung ist das Rohmaterial, die Verschriftlichung ist Literatur – selbst wenn es um Vergewaltigungen und Konzentrationslager geht. Möglichkeiten der Umsetzung gibt es viele. Man muß sich nur die Reportagen ansehen, die in der Sonderausgabe von Lettre International zum Thema Sarajevo (IV, 1995) versammelt sind. Das erzählende Ich kann sich auf den Ausdruck seiner Betroffenheit beschränken und ansonsten nicht selbst erlebte Zustände in einem Lager recherchieren, es kann sich genauso selbst in den Vordergrund stellen, umgeben von Kampfgeruch und Gefahr.
Das Paradoxe ist, je spannender ein Text sich liest, desto geringer ist der Realitätseindruck beim Leser, weil literarische Techniken unweigerlich die Assoziation mit Literatur hervorrufen. Kunst aber schafft Distanz, eine Kurzgeschichte wird um ihrer selbst willen gelesen, nicht wegen ihres Informationsgehalts.
Daß eine Reportage kein neutrales Abbild der Realität liefern kann, daß ihre sprachliche Form bis zu einem gewissen Grad auf sich selbst zurückverweist statt auf ihren nichtsprachlichen Gegenstand, ist jedoch kein Grund, mediale Berichterstattung pauschal zu verdammen. Entscheidend bleibt immer die persönliche ethische Haltung des einzelnen. Sofern Pluralismus in der Gesellschaft gewährleistet ist, ist der Einseitigkeit automatisch vorgebeugt.
Zum Thema ist im Internet das Projekt „Journalists at War“ des London International Research Exchange zu besichtigen unter: www.easynet.co.uk/LIRE/jaw.htm
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