„Wie ein schönes wildes Tier“

Vor einem Jahr starb Reinhard Libuda, der bisweilen genial fußballernde Rechtsaußen, der sich im richtigen Leben immer wieder so tragisch verdribbelte  ■ Von Bernd Müllender

Gelsenkirchen (taz) – Die Stadt des Uefa-Cup-Siegers hat schon ihren eigenen Sinn für Kulinarik. Der Schnellimbiß gleich beim Markt heißt „Big Mampf“, Tamagotchis („Schnell füttern!“) gibt's kurioserweise beim Buchhändler, und nur zu ganz besonderen Ehrungen werden die Delikatessen der Region aufgefahren: frische Mettbrötchen mit Zwiebeln und schön salzige Schmalzstullen. So wie am Donnerstag dieser Woche im Laden der Schalker Fan-Initiative, wo zum feierlichen Jahrgedächtnis des Reinhard „Stan“ Libuda geladen wurde.

Nostalgiegedudel? Heile Welt und Trallala? Wir wären nicht auf Schalke, würde es nicht gleich hochdramatisch, gar lebensbedrohlich. Rudi Gutendorf (71), Schalkes Coach der Libuda-Ära, hatte als Laudator kurzfristig abgesagt, weil er „mehrere Morddrohungen“ erhalten habe. Grund: Gutendorf hatte in einem Interview die Schalker Vereinsführung angeklagt, sie hätte sich nach Libudas Karriereende mehr um den sensiblen Sonderling kümmern müssen, dann wäre er nicht alkoholkrank und hochverschuldet, vereinsamt und psychisch zerbrochen zugrunde gegangen. Übelste Nestbeschmutzung so was. Dachten sich mehrere Anrufer und ließen Gutendorf wissen, sie würden ihm „den Schädel einschlagen“, wenn er sich „noch einmal in Gelsenkirchen blicken lasse“.

So mußte die Präsentation einer neuen Libuda-Biographie ohne den prominenten Trainer-Paten stattfinden. Über die genialen Taten des Bergmannssohnes an der Seitenlinie sind sich alle einig. Der Vater: „Das Dribbeln war angeboren.“ Vereinswirt Günter Bosch: „Der hatte den Instinkt im Blut.“ Solange ein Ball an seinem Fuß pattexte, schien alles gut: bei Schalke 04, zwischenzeitlich in Dortmund (wo sein kurioser Fernschuß der Borussia 1966 in Glasgow den Europacup-Triumph gegen den FC Liverpool sicherte), dann wieder Glückauf-Kampfbahn, große Länderspiele, das grandioseste beim 5:2 gegen Bulgarien während der WM 1970 in Mexiko. Dann kam der Bundesligaskandal. Anders als bei seinen Schalker Kollegen Fischer, Rüßmann, Fichtel, die ihre Karrieren alsbald fast nahtlos weiterführten, bedeutete die Affäre praktisch das Ende von Libudas Laufbahn, auch wenn er noch kurz in Frankreich spielte.

Nach Karrierschluß übernahm Libuda am Schalker Markt Ernst Kuzorras Tabakladen und war völlig überfordert. Alle machten sich über ihn lustig, diesen einfältigen Simpel, der kaum einen Taschenrechner einzuschalten wußte. Jetzt war er nicht mehr Stanley Matthews, das englische Vorbild, sondern der Doof: Stan Laurel. Gutendorf sah im Tabakwarenkäfig „einen deprimierten Mann, ausgestellt wie ein schönes wildes Tier“. Bald war der hilflose Libuda pleite, die Frau haute ab, der traurige Held schämte und verkroch sich, wurde fetter, immer häufiger krank und war nachher nicht mal mehr krankenversichert.

Nur auf dem Platz war er stark. 1966, gerade war Libuda zum Europapokal-Helden avanciert, mußte er zur Bundeswehr. Eine Tragödie! Ein Kamerad erinnert sich, daß Libuda „noch nicht mal richtig ein Gewehr halten konnte. Ständig hatte er vor irgend jemandem Angst. Libuda schlug sogar vor einem Obergefreiten die Hacken zusammen.“ Und wie andere den Gefreiten Weichei gedemütigt haben, getriezt, beschämt. Das Buch über dieses „Museumsstück im blauweißen Fußballkabinett“ berichtet von rührend absurden Szenen im Kampfanzug oliv. Der Mitsoldat sagt: „Irgendwie war er nicht von dieser Welt.“

„An Gott kommt keiner vorbei – außer Libuda.“ So haben sie den Unaufhaltbaren damals gefeiert. Aber: Hieß es nicht „An Jesus...“? Umgehend entbrennt eine Debatte in Blau und Weiß. Buchautor Thielke weiß zu erzählen, ein Dortmunder Stadtführer habe ihm glaubwürdig berichtet, an einer Kirche dort 1967 das Transparent mit dem Gott Libuda gesehen zu haben. Forscher Thielke muß aber zugeben: „Ein Fotodokument, ein Beweis fehlt.“ Ein Schalke-Freund berichtet empört, auf Schalke, er sei Zeuge, hätten Tausende von Jesus und Libuda gesungen. Und wenn Gegenteiliges schon ein Dortmunder behaupte, also waisse...

Unvermeidlich in Schalke die Frage, warum das Buch einer geschrieben hat, der jenseitig aus Hannover stammt, in Hamburg lebt, der sich selbst zum Nichtsportfachmann erklärt und – Jahrgang 1968 – bei Libudas letztem Auftritt gerade eingeschult war. „Aber ich war bei der Beerdigung.“ Der „göttliche Fummelkönig Libuda“, rechtfertigt Thilo Thielke, sei halt „einer der letzten legendären Arbeiterfußballer“, eben „ein Pop-Prolet“. Ein trauriges Faszinosum mit zwei Leben: Und man merkt dem anekdotengefüllten Opus nur an wenigen Stellen an, daß der Autor kein Fußballspezialist ist.

Vielleicht gut so: So kann er nachträglich erstmalig nachhaltig fasziniert sein, wie die Fanschaften damals „zusammen mit ihrem Propheten in einen tranceähnlichen Zustand gerieten“. Reinhard Libudas letzte Jahre: Gnadenbrot in einer Papierfabrik. Es muß eine glückliche Zeit gewesen sein: „Hier hab ich meine Maschine, hier stört mich keiner“, hat er gesagt. Logis auf zehn Quadratmetern bei seiner Mutter Martha. Manchmal gab es da noch Stans Leibspeise: Königsberger Klopse oder eben, wir sind im Pott, gebratene Taube. Das Ende: Darmgeschwulst, Kehlkopfkrebs, Schlaganfall, Herzversagen. Der Tod mit 52 Jahren. Schlußsatz: „Er trug Turnschuhe, als er starb.“

Thilo Thielke: „An Gott kommt keiner vorbei...“ Werkstatt-Verlag Göttingen, 240 Seiten, 34 DM