■ Hoege an der Müritz: Maßlosigkeit am Binnenmeer
Die mecklenburgische Seenplatte ist nur was für gereifte Aktivurlauber. Den größten deutschen Binnensee, die Müritz, kann man mit Paddelboot von Berlin aus erreichen. Meine Begleiterin Dorothee Wenner lotst mich nach Malchow, wo noch die Besatzung des Biergartens „Warener Bros.“ am See zusammensitzt.
Überall sind die Saison-Arbeitsplätze fest in Frauenhand. Hier heißen sie Tatjana, Mandy, Doreen, Inge und Moni. Und dann gibt es da noch einen gebürtigen Gothaer, zuletzt Zerspaner in Plau am See, der auf Kosten des Arbeitsamtes den Hilfskoch macht: Michael. Die Damen atte
stieren ihm „Engagement“. Er selbst meint, trotz der arbeiterfeindlichen Zeiten, das „Niveau“ auf untere Hälfte Oberkante halten zu können, und schwenkt dazu ein Glas mit Markenweinbrand. Gerade als die Damen lauthals anfangen, all sein Bemühen als unattraktiv abzutun, legt eine Yacht namens „Bounty“ an. Sie gehört zwei Einheimischen, die sich unaufdringlich an „Miami Vice“ orientieren, auch wenn sie eher mit dem Verbrechen liebäugeln. Der eine saß bereits zu DDR-Zeiten „wegen Arbeitsverweigerung“ im Knast, und der andere behauptet, schon eine „Gänsehaut zu bekommen“, als Michael ihm von seiner alten ehrlichen Arbeit erzählt. Die beiden Endzwanziger sind jetzt „Müritzpiraten“ – und Dorothee möge doch mal einen Film über sie machen.
Erst einmal führen sie jedoch dem Anpassler Michael die ganze Vergeblichkeit seines Tuns vor Augen: „Haste 'ne Yacht? Nee! Haste 'n Haus? Nee! Haste 'n Auto? Nee! Ich fahre einen Kia!“ „Das ist doch kein Auto!“ „Ich habe auch nichts, bin ich deswegen niemand?“ schlägt sich Mandy überraschend auf die Seite des Gothaers, der von den beiden Mecklenburgern nun auch noch wegen seines Dialekts attackiert wird – aber dabei ruhig bleibt.
Die anderen Frauen bilden bei diesem Wortwechsel über den geraden und den krummen Weg der Wende so etwas wie einen stummen antiken Chor. Es ist das alte Lied – von Odysseus bis zu den Meuterern auf der Bounty: verschwinden, alle Gelegenheiten ergreifen – aber dann doch wieder „heimkehren“.
Der immer sauber gebliebenen Landratte aus Thüringen, mit kurzer Grenzer-Erfahrung an der Berliner Mauer, ist zwar der „windige Profit an den Blitz-Deals“ der beiden Müritz-Piraten suspekt, aber Heim und Herd sind doch auch ihm – als altem Leistungslöhner – Goldes wert: „In drei Monaten hatte ich schon das Geld für die Schrankwand zusammen!“ Dorothee und ich betrinken uns – begeistert von diesem nächtlichen Nord-Süd-Dialog. „Aber zwei schöne Kinder haste“, springt Moni Michael bei, der daraufhin einen Jacobi ausgibt. Vielleicht liegt es an der DDR-Substanz der Streitenden, daß trotz all ihrer banalen Intentionen die Intensitäten so gut durchkommen?
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