: Leben unter dem Diktat der Pille
■ Die HIV-Infizierten bei der Bundesversammlung sind verunsichert. Lohnt die hochgelobte tägliche Chemo-Keule?
Bremen (taz) – Für Matthias ist ein Leben zusammengebrochen. Als sein Arzt ihm riet, eine Ausbildung anzufangen, habe ihn das fast härter getroffen als sein positiver HIV-Test vor acht Jahren, erzählt der 28jährige. „Plötzlich muß ich mich von einer Lebensperspektive von höchstens zwei Jahren verabschieden und für vielleicht 20 Jahre planen.“
Für diese neuen Aussichten der Aids-Patienten sorgen die neuen Kombi-Therapien: Zwei oder drei Präparate werden kombiniert eingenommen, um die Ausbreitung des HIV-Virus im Körper zu bremsen. Aids werde so zur behandelbaren chronischen Krankheit, sagte Uli Meurer, HIV-Referent der Deutschen Aids-Hilfe bei der 8. Bundesversammlung der Menschen mit HIV und Aids am Wochenende in Bremen. Erstmals mußten die Veranstalter Anmeldungen ablehnen, die 600 reservierten Hotelbetten waren belegt. Nach Ansicht von Medizinern wirken die neuen Medikamente bei vielen Menschen tatsächlich: „Die Teilnehmer bei dieser Bundesversammlung sind viel gesünder als die bei vorigen Treffen“, stellte der Arzt Matthias Wienold fest.
Dabei würde erst ein Drittel der HIV-Patienten mit Kombi-Therapien behandelt. Wie der 33jährige Arzt Henry schlucken sie täglich zwei Hände voll unterschiedlicher Pillen, um dem Ausbruch der Krankheit entgegenzuwirken. Abgesehen von den vielfältigen Nebenwirkungen wurde in Bremen das unerbittliche Diktat der Tabletten über den Alltag als Hauptkritikpunkt gegen Kombi-Therapien deutlich. „Alle acht Stunden auf nüchternen Magen eine Handvoll Tabletten zu nehmen, das habe ich nicht durchgehalten“, klagt Matthias. Doch seine Immunwerte sinken, nun beginnt er eine neue Kombi-Therapie.
Einige verweigern: Die sogenannte Suppenkaspar-Gruppe tagte unter dem Motto „Nein, meine Pillen esse ich nicht“ in einem Hinterzimmer des Tagungshotels. Ren (29) berichtete von dem massiven „Druck zur Therapie“ in vielen Uni-Kliniken. „Aber auch mein Lebensgefährte sagt mir, er fühlte sich besser, wenn ich eine Therapie machte.“ Arend (32) lebt seit 12 Jahren mit dem Virus: „Solange es mir gut geht, warte ich noch ab.“
Skeptiker befürchten einen Rückschritt auf dem Weg zu einem nicht nur rein medizinisch definierten Begriff von Gesundheit, der auch die Frage nach Lebensqualität einschließt. Unerfahrene Ärzte könnten jetzt allein aufgrund von Laborbefunden ohne Rücksicht auf Nebenwirkungen Therapien verordnen und so auch noch die HIV-Viren allmählich resistent machen. Niemand könne heute wissen, ob eine Antiviraltherapie das beste für die Patienten sei, bestätigte Ulrich Hengge vom Essener Universitätsklinikum. „Es kann sein, daß das 15 oder 20 Jahre funktioniert, aber vielleicht auch nicht.“ Er rät deshalb, genaue Therapieziele wie „ich will nicht mehr so schlapp sein“ zu definieren, um daran den Erfolg der täglichen Chemo-Bomben zu messen.
Trotz der Kritik wurde in Bremen deutlich, daß die neuen Therapien das Leben mit HIV verändern. Bei der Deutschen Aids-Stiftung seien schon Anträge auf Finanzierung einer Ausbildung eingegangen, berichtete Vorstand Uli Heide. Die soziale Lage der Aidskranken könne sich aber mit längerer Lebensdauer verschärfen. Schon heute wende sich jeder dritte Aidskranke mit der Bitte um Hilfe an die Stiftung, weil die Sozialämter die Kosten für Heizkostennachzahlungen oder Waschmaschinen für Ein-Personen- Haushalte nicht bezahlten. Jetzt werde auch noch der Ernährungsmehrbedarf für HIV-Patienten zusammengestrichen.
In Bremen wurde darum erneut die Forderung nach einer steuerfinanzierten Grundrente erhoben. Ohne eine grundlegende Reform müßten die HIV-Infizierten ihre „erschluckten Jahre“ in Armut verbringen. Außerdem werden sie weiter vom „Stigma Aids“ belastet. Ulf, 37, seit zwölf Jahren positiv, gesund und Therapieverweigerer berichtete von seinen Erfahrungen in einer norddeutschen Großstadt: Seine Frau wurde aufgefordert, einen HIV-Test vorzulegen, als sie sich zu einem Tanzkurs anmelden wollte. Die Leiterin hatte von der Infektion ihres Mannes erfahren.
Joachim Fahrun
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