: „It's great outdoors, isn't it?“
Die neueste junge britische Kunst setzt auf Kugelschreiberkringel und Ästhetik, wobei sie sich von der Drastik eines Damien Hirst weit entfernt ■ Von Petra Welzel
Die Frau im Video mit den dunklen kurzen Haaren und spitzauslaufenden Koteletten trägt ein hellblaues Babydoll, so ein arm- und beinloses, rüschiges und pastellblaues Etwas, in dem man sich als kleines Mädchen in den späten 60ern und frühen 70ern nachts im Bett immer todschick und unheimlich erwachsen fand. Vergeblich versucht diese Frau mit einer auf dem Boden justierten Luftpumpe ihr Alter ego aus Gummi neben sich zum Leben zu erwecken. Sobald die Frau aus Fleisch und Blut erschöpft ihre kraftraubende Tätigkeit einstellt, entweicht ihrem Ebenbild der Lebenshauch. Schlaff kippt es gegen die Wand zurück.
Irgendwann muß sie das Loch dann doch gestopft haben, denn ein paar Räume weiter steht man wieder vor derselben Frau und ihrem nun aufgeblasenen Selbstbildnis. Diesmal absolut wettertauglich bekleidet; die Puppe – very British – in einer dunkelgrünen gewachsten Baumwolljacke, die Frau in einem roten Parka. „It's great outdoors“, nennt Jemima Brown diese Aufnahme. Sie ist die Künstlerin und sich selbst Muse zugleich und steht da nun mit ihrem anderen Ich, endlich nicht mehr allein, irgendwo in der englischen Einöde zwischen Hügeln und Wäldern, mitten in einem Kornfeld wie die vier Jungs aus dem Film „Trainspotting“ bei ihrem ersten und auch schon wieder letzten Ausweg ins Grüne.
Die Schockwelle ist out
Neue britische Kunst, egal ob Film, Video, Fotografie, Installation oder Bild, ist nach wie vor ein kaum zu übersehender Exportschlager der Insel. Je drastischer und ekeliger sie ist, desto mehr reißen sich die Kinowelt, Galerien und Ausstellungsmacher um sie. Dagegen wirkt jetzt die Schau der „Beck's New Contemporaries '97“ im Londoner Camden Arts Centre, wo auch Browns Arbeit zu sehen ist, überraschenderweise geradezu wie ein Anachronismus.
Seit zwölf Jahren hat das Organisationsbüro der „New Contemporaries“, dieses einzigartigen Forums für junge KunststudentInnen, seinen Sitz in Manchester, in der Provinz. Dort wählten die Kuratoren, der Schriftsteller Sarat Maharaj, der Ausstellungsmacher Hans Ulrich Obrist und die Künstlerin Gillian Wearing, unter den diesjährigen 1.200 Einsendungen gerade mal 17 junge KünstlerInnen mit ihren Arbeiten aus und entschieden damit, wer sich tatsächlich zu den zeitgenössischen, jungen britischen KünstlerInnen im folgenden Jahr zählen darf.
Ihnen zurechnen kann sich jetzt eine Schar von KunsthochschulabsolventInnen, die sich erstaunlicherweise deutlich von ihren schon bekannten Landsleuten unterscheiden. Gillian Wearing selbst war noch Anfang des Jahres mit frappierend nüchternen Porträts von Menschen, die sie einfach auf Londons Straßen um einen momentanen, persönlichen Zustandsbericht und ein Foto gebeten hatte, Teilnehmerin der vielbeachteten Show „Full House“ im Kunstmuseum Wolfsburg. Daß es die Fotokünstlerin einmal so weit bringen würde, war nicht unbedingt abzusehen. „Als ich am College war, habe ich bestimmte Dinge gemacht, von denen ich dachte, daß sie richtig sind. Als ich die Schule verließ, wollte ich eine Dokumentation machen oder fürs Fernsehen arbeiten. Ich wollte nichts tun, was irgendwie mit Kunst zu tun hatte. Als diese Ideen in mir aufkamen, geschah das aus einer Haltung heraus, in der es mir egal war, ob die Leute mich akzeptieren oder ablehnen würden“, sagt Wearing heute, wo sie darüber urteilt, welche Kunst es wert ist, ausgestellt zu werden. „Es ist wichtig zu wissen, daß eine Ablehnung nichts Schlechtes ist. Ich wurde genau viermal für die New Contemporaries abgelehnt, und man muß durch diese Fallen ebenso wie durch die aufregenderen Momente, um Dinge in sich selbst zu erkennen“, gibt sie all denen im Katalog mit auf den Weg, die in diesem Jahr nicht unter den Auserwählten sind. Denen, die jedes Jahr darüber nachdenken, wie die Impressionisten im 19. Jahrhundert ihren eigenen „Salon der Abgelehnten“ zu gründen. Nur, wer würde schon zu ihnen kommen, da bereits den New Contemporaries der Ruf anhängt, gegen den Mainstream zu schwimmen und ganz bewußt nicht für den Kunstmarkt zu produzieren? Vielleicht mag gerade dieser Umstand auch erklären, warum man im Camden Arts Centre das Gefühl hat, daß die neuen jungen britischen KünstlerInnen nicht mehr auf der Schockwelle surfen und auch nicht mehr auf Damien Hirsts geteilten Kälbern reiten wollen, mit denen er denn einst den Markt eroberte.
Statt dessen scheint sich bei den gerade erst graduierten KunststudentInnen eine lange verneinte Ästhetik des Schönen ihren Weg zu bahnen. Die Bilder von Keith Forquhar und Katherine McKee leben von ausgewogenen geometrischen Linien-, Kreis- und Punktkompositionen. Abstraktion und Minimalismus ist ihre konsequent durchgehaltene Bildsprache. Pedro Gomes' riesiges dreiteiliges Werk „I am afraid I'm not here at the moment, but you can leave a message after the beep ...“, eine Arbeit aus Tausenden von mehrfarbigen Kugelschreiberkringeln, erinnert an Gerhard Richters Bilderserien, denen es an Schärfentiefe mangelt und die sich erst auf die Entfernung zu einem Bild zusammenfügen. Bei Gomes erkennt man mit genügendem Abstand einen Hörsaal, einen Warteraum und einen Supermarkt, Aufenthaltsorte des Künstlers, der abends nach Hause kommt, seinen „AB“ abhört und währenddessen mit dem Kugelschreiber Bilder aufs Papier zaubert.
Gegen diese beinahe ornamentale Geduldsarbeit wirkt Sarah Dobais „Campaign Serie“ zunächst einmal schockierend. Werbeplakatgroße Aufnahmen von einem verwahrlosten Obdachlosen in einem Wohnghetto, von zwei verbluteten toten Frauen in einem Wagen an einer gefährlichen Straßenkreuzung und zwei protestierenden Elternpaaren an einer Stadtautobahn greifen alltägliche Situationen auf, um auf diese Mißstände aufmerksam zu machen. Doch sie tun das in einer ästhetisch formvollendeten Art und Weise, die tatsächliche Misere der Tausenden von Londons im Abfall lebenden Homeless ignorierend, die die Fotografien aber gerade deshalb um so eindringlicher machen. Ihre Wirkung ist vergleichbar mit einem schon fast verhungerten afrikanischen Kind, aufgenommen inmitten einer üppigen Wüstenoase.
Phallischer Knoten
Die Arbeiten der New Contemporaries spielen mit dem schönen Schein und seinen Untiefen. Dryden Goodwins Video „Hold“ ist ein wunderbares Daumenkino von dahinrasenden Köpfen, bis einen die psychedelische Musik umfängt und man beginnt, über Schnellebig- und Sprachlosigkeit zu sinnieren. Und auch Frankie Sinclairs auf den ersten Blick erfrischenden Luftballoninstallationen, schrill, grell und handschmeichelnd rund, entpuppen sich bei längerer Betrachtung – zum Beispiel der Braut und ihres Brautkleides – als ein unlösbarer phallischer Knoten im wohlbekannten Kampf der Geschlechter.
Obwohl von einer großen Bremer Biermarke gesponsert, werden es die jungen KünstlerInnen nach dem Ende der Schau schwer haben, weiterhin die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Damien Hirst, das Enfant terrible der britischen Kunst, wird nicht nur über The Big Issue, Londons Obdachlosenzeitung, dreißig seiner Rotationsbilder verlosen (die Rätsel dazu hat er selbst geschrieben), einen Monat später setzt er sich auch noch in den Sessel des Chefredakteurs.
Dieses Event, das „Geld, Leben, Kunst, Tod, Sex, Liebe, Ruhm und Rauch“ in einem verspricht, hat ihn schon jetzt auf die Titelseite des Guardian gebracht, was darauf hindeutet, daß sich seine jüngeren Zeitgenossen bei aller Ästhetik wohl doch noch einen Schritt weiter auf die Realität zubewegen müssen.
Beck's New Contemporaries, Camden Arts Centre, London, bis 21. September; „cca“, Glasgow, 12. Dezember 1997 bis 31. Januar 1998
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