■ Mitteilungen aus der äußersten Mongolei: Moderne Zeiten in Ulan-Bator
Seit 1992 bildet sich auch in der Mongolei so etwas wie eine neue konsumistische Mittelschicht heraus. Einer ihrer – inzwischen berühmten – Wort- und Tatführer heißt Dondogyn Batjargal (39). Der studierte Mongolist ist seit 1993 Chefredakteur der von ihm gegründeten Wochenzeitung für die moderne Jugend: „super“. Im Rahmen eines europäisch-asiatischen Journalistenaustausches arbeitete der deutsch sprechende Batjargal einige Wochen in der taz. Mit ihm war seine Tochter Angara (13) nach Berlin gekommen. Sie besucht ein Musikgymnasium in Ulan-Bator. Später kam auch noch seine Nichte Munhknayar Bayarmaa (22) nach, die an der Kunstakademie gerade als Lady Macbeth ihr Schauspieldiplom gemacht hat. Helmut Höge traf sich mit Batjargal, Angara und Bayarmaa, protokollierte, was die drei über ihre Aktivitäten und ihre Heimat zu erzählen haben, und stellte mit ihnen diese Wahrheitsseite zusammen.
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Die Mongolei wurde 1921 von China unabhängig – erst durch die Sibirien besetzt haltenden „Weißen“, die Truppen des Baron Ungern-Sternberg, und dann durch die „Roten“. Der zentrale Platz in Ulan-Bator trägt noch immer den Namen des 1923 gefallenen mongolischen Bolschewisten Suh-Kaatar. Früher konnte man ohne Formalitäten in die Sowjetunion reisen und benötigte für China ein Visum, heute ist es genau umgekehrt.
Vom Suh-Kaatar-Platz geht die große Leninallee ab, die jetzt „Dschingis Khan“ heißt, sowie die Friedensstraße „Enh-taiwan“, auf der die hauptstädtische Jugend flaniert, entlang an Boutiquen, Hotels, Theater, Oper, Kulturpalast und Kaufhausschaufenstern. Fünf Dollar (4.000 Tugrik) kostet der Eintritt in die Discothek „Motor- Rock“ – der Durchschnittsverdienst liegt derzeit bei 40.000 Tugrik. Die großen Popkonzerte finden im Kulturpalast statt, in einem Saal mit 1.500 Plätzen. Hier treten die berühmteste Sängerin der Mongolei, Sarantuya (Mondschein), auf, die Boy-Groups Kamerton und Nikiton, die Technoband Black Rose und die Rockgruppen Haranga (Gong), Hurd (Speed) und Suns (Seele). Für die Suns wickelt Batjargals super-Redaktion die Fanclub-Geschäfte ab. Auf dem Suh-Kaatar-Platz treffen sich die Skateboarder, Radfahrer und Rollerblader, und auch in Ulan-Bator werden jugendliche Sprayer zu einem immer größeren Polizeiproblem.
Während Batjargal, Angara und Bayarmaa in Berlin die Love Parade besuchten, wurde in der Mongolei drei Tage lang das Nationalfest Naadam gefeiert. An diesem Tag besucht man seine Verwandten, trinkt Airag (gegorene Pferdemilch) und ißt Aaroul (getrockneten Quark) sowie getrocknetes und pulverisiertes Fleisch: Borz – eine „Erfindung“ der mongolischen Reiterheere, die wir irrtümlich Justus von Liebig zuschreiben. Bayarmaa hatte einen Sack Borz nach Berlin mitgebracht, außerdem mongolischen Edelwodka der Marke „Dschingis Khan“, so daß man vor der Love Parade auch hier noch kurz Naadam feiern konnte.
Im Sommer ist auch in der Mongolei Ferienzeit. Die Studenten trampen in die Kulturhäuser der Provinz, machen dort Praktika oder helfen im internationalen Pionierlager, das jetzt Children-Center heißt. Der 1. Juni ist Mutter- und Kindertag, dann beginnt im Freundschaftspark die Sommersaison – mit Feuerwerk, Musik und Tanz. Letztes Jahr besuchte der Dalai Lama die Mongolei – zusammen mit Richard Gere.
1993 organisierte Batjargal in einem Hotelclub von Ulan-Bator die erste mongolische Striptease- Show; außerdem einen „Gentlemen-Contest“, eine „Talentshow“, am internationalen Frauentag eine „Männershow“ und Anfang 1997 einen „Queen of Striptease“-Contest, zu dem sich hundert Journalisten akkreditierten. Die Siegerin bekam einen Zobelpelz und eine Silberkrone mit neun Steinen.
Neben dem staatlichen TV-Programm gibt es mittlerweile noch einen hauptstädtischen und zwei private Fernsehsender. Für letztere organisierte Batjargal unlängst den Besuch zweier Hauptdarsteller einer venezuelischen Telenovela, die in der Mongolei hohe Einschaltquoten hat. Auch die mongolischen Filmemacher arbeiten mehr und mehr fürs Fernsehen, doch allein in Ulan-Bator gibt es noch 40 Kinos sowie einen blühenden Videohandel. Früher dominierte die Sowjetunion das Filmangebot, jetzt die USA, daneben sind aber auch Filme aus Hongkong, China und Japan beliebt.
Die mongolischen Filmemacher bekommen Kredite vom Staat, während die Dichter und Schriftsteller ihre Werke oft im Selbstverlag herausbringen müssen. In der Hauptstadt gibt es zehn Theater, „Romeo und Julia“ von Shakespeare war ein Jahr lang ausverkauft. Durch die marktwirtschaftliche Wende und die Reduzierung der staatlichen Kulturförderung verlaufen die Karrieren der Nachwuchskünstler nicht mehr planmäßig; viele Studenten versuchen, möglichst lange an den Universitäten zu bleiben.
Auch Bayarmaa hat nach ihrem Diplom noch ein Magisterstudium angehängt. Obwohl ihr Talent, wie sie sagt, in der klassischen Schauspielerei liegt, wünscht sie sich, mit einem Regisseur im Ausland zu arbeiten: „Dafür muß ich zuerst Fremdsprachen lernen.“ Angara würde gern Geschäftsfrau werden und in einer Band singen. Batjargal will seine Tochter und seine Nichte dabei unterstützen, „Stars in der Mongolei“ zu werden.
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