: Schamloser Todesblick
■ Hermann Kinders „Um Leben und Tod“
Ein Sohn umkreist in weiten, immer auf das eigene Ego zurückweisenden Windungen die Agonie seiner Mutter. In einem tristen Spital amputiert man der einst lustigen Trinkerin stückweise die Gliedmaßen. Dem rasanten Verfall des verbleibenden Rumpfs wohnt der Sohn in einer Mischung aus Trauer, Lebensrückschau und jäher eigener Todesangst bei, aber auch mit morbider Faszination. Unter seinem Blick gerinnt das Bild der sich entseelenden Mutter wie zum still eines Splatter-Films: Detailverliebt schweift die Beschreibung vom faulenden Raucherbein zu den Kotkügelchen, die man der Kranken vom Körper pult.
In der Wandlung des mitleidenden Sohnes zum Voyeur, möchte Hermann Kinder in seinem Roman Um Leben und Tod die persönliche Grenzsituation in aller denkbaren Fremdheit schillern lassen: Im Angesicht des Todes verliert der Blick seine Scham. Leider wird die Schmerzhaftigkeit dieser Wandlung, die doch überraschend und quälend geschieht, von der absatzfrei fließenden Prosa fortgespült. Kinders unterschiedslos flott manierierte Sprache wird den Metamorphosen seiner Figur kaum gerecht. Ein einziges Mal stimmt das Tempo, zum Schluß der Geschichte. Plötzlich gesundet die vorgeblich Unheilbare und verbringt ein letztes, glückliches Jahr in einem Pflegeheim – bis sie der Tod dann doch überrascht, nach dem Genuß einer großen Portion Schupfnudeln mit Kraut und Speck.
Diese Mischung aus Witzigkeit, Existentialismus und Nekromantik wäre nicht bloß bizarr, sondern auch gut, gelänge es dem Autor, die rechte Entfernung zu seiner Figur zu finden. Doch obwohl dem Leser die intimsten Betroffenheiten eröffnet werden: Der Sohn heißt bloß Meier, anonym ohne Vornamen, man erfährt von ihm nur in der dritten Person. „Hier war er nichts, hier fand er sich.“
Fremd, Selbst, Jedermann – Kinder will die unentschiedene Rolle von Meier als literarischen Gegenstand nobilitieren. Darum eiert die Sprache so seltsam ums Wesentliche: weil er es sich nicht gestattet, „ich“zu sagen. Ein Antidot gegen den Kitsch ist das nicht. J.Balzer
Hermann Kinder: Um Leben und Tod. Rotbuch Verlag, Hamburg, 1997, 140 S., DM 34.
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