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Stumme Insel der Armut

Wohnen in Hamburg: 3000 Menschen ohne S-Bahn, ohne Bäcker, ohne Arzt. Die Fehler der Großsiedlung Neu-Allermöhe-Ost in den Vier- und Marschlanden dienen als Vorbild für neue Projekte wie Neu-Allermöhe-West und Neugraben-Fischbek und ...  ■ Von Heike Haarhoff

wischen Ost und West liegen sieben Busminuten. Die junge Frau hat Mühe, das Gleichgewicht zu halten. An der einen Hand zerrt das Einkaufsnetz, an der anderen ihr Kind. Aber wie sonst soll sie ihre Besorgungen erledigen? Im Westen gibt es nichts zu kaufen. Es sei denn, es ist ausnahmsweise Wochenmarkt. Die Frau schwankt. Der Bus biegt um die Ecke. Läßt die triste Ladenzeile am S-Bahnhof Nettelnburg, die sich selbstbewußt Zentrum von Neu-Allermöhe-Ost nennt, mit ihrer Apotheke, ihrem Zeitungskiosk und dem obligatorischen Imbiß hinter sich.

Die Ausfallstraße gen Westen ist frisch asphaltiert. Auf großen Pappschildern verheißen Baugesellschaften hie und da eine „familiengerechte“Zukunft in Reihenhaus- oder Etagenbauweise auf der grünen Wiese. Der von Neu-Allermöhe-West. Quadratmeterangaben, Sozialwohnungsgrundrisse, die Aussicht auf einen Tiefgaragenstellplatz fliegen vorbei. Dazwischen Niemandsland. Kräne. Rohbauten. Und alles backsteinrot.

18.000 Menschen sollen es sich hier in Neu-Allermöhe-West bis Anfang des nächsten Jahrtausends wohnlich machen; 3.000 sind schon da, 3.000 ohne Bäcker, ohne Supermarkt um die Ecke, viele ohne Arbeit und Auto, dafür aber mit Tiefgaragenstellplatz. Die Frau und das Kind sind zwei von ihnen, und zusammen mit dem bereits fertig aus dem Acker gestampften Stadtteil Neu-Allermöhe-Ost im Bezirk Bergedorf werden es 30.000 sein. Eines der größten Neubaugebiete Europas, prahlt die Stadtentwicklungsbehörde. Hamburgs größtes sowieso.

Sogar der Bundesbauminister war schon da. Hat das neue Konzept vom ökologischen Bauen und vom „Wohnen am Wasser“, diese „marschentypische Grabenstruktur zur Oberflächenentwässerung“, gelobt. Die Erschließungsarbeiten haben 1992 begonnen, die ersten Mieter sind im Sommer 1995 eingezogen. Bis heute warten sie auf einen eigenen S-Bahnanschluß, ein Bürgerhaus, einen Arzt, eine Sparkasse, eine Kneipe.

Als der Bus um vier Uhr nachmittags vor dem Haus der Frau in der Margit-Zinke-Straße ankommt, machen die Bauarbeiter gerade Feierabend. Nur einen Bauwagen etwas abseits haben sie offenbar vergessen abzuschließen. Acht- bis zwölfjährige Jungs laufen rein und raus, holen Werkzeug und machen Lagerfeuer.

„Nee“, Peter Ast tritt grinsend an die Bauwagentür, „das hier ist das Jugendzentrum.“Viel paßt in den Bauwagen nicht rein: ein Tisch, darauf Gesellschaftsspiele, ein paar Stühle, Gerümpel. Das Jugendzentrum für 1.000 oder mehr Kinder und Jugendliche von Neu-Allermöhe-West. Kein Wasser, keine Toilette, keine Heizung.

„Einen zweiten Winter überstehen wir nicht“, warnte Sozialarbeiter Peter Ast. Das war auf einer Stadtteilversammlung im vergangenen April; da waren er und seine Kollegin Carola Kludasch aber schon ein Jahr vor Ort. „Wir hatten das mit den beiden Bauwagen nur als Gag gedacht.“Das Provisorium blieb. Jetzt naht wieder der Winter, doch die beiden Jugendclubs und die zwei Spielhäuser sind als „Investitionen und Folgekosten“erst in den Haushaltsplanungen von 1998 bis 2001 vorgesehen, bedauert der Senat.

Immerhin gibt es inzwischen ein halbfertiges Bootshaus, das mit ein bißchen Glück bezugsfertig werden könnte, bevor es wieder schneit. Der größere der beiden Bauwagen jedenfalls, das gilt als sicher, wird es nicht mehr machen. „Den haben sie kaputtgekloppt“, sagt Ast. Viermal in Folge wurde das Gefährt, das freitags abends mit einem Vordach oft zur Jugenddisco umfunktioniert wurde – der einzigen im ganzen Stadtteil –, am Wochenende aufgebrochen. Viel war nicht zu holen, „da haben sie uns auf die Tische geschissen und in die Reifen gestochen“.

Und dann sagt Peter Ast noch, daß kleine Kinder „zunehmend verwahrlosen“. Daß Jugendliche „hier schon mit 13 Wodka saufen“. Daß es Mietshäuser gibt, in denen 70 Prozent der Bewohner Aussiedler aus Rußland oder Polen sind, „an die du nicht rankommst, wenn du die Sprache nicht sprichst. Und an die Eltern schon gar nicht. Die machen das Maul nicht auf und sind andere Obrigkeitsstrukturen gewöhnt“.

„Die Kriminalität liegt weit unter dem Durchschnitt in Bergedorf“, stellt der Jugendbeauftragte der Polizei, Frank Engler, klar. Trotzdem sei bei vielen das „subjektive Sicherheitsgefühl“beeinträchtigt: „Da treffen zwei verschiedene Kulturkreise aufeinander, die sprechen nicht dieselbe Sprache, da gibt es einfach Berührungsängste.“Dann noch ein paar unaufgeklärte Einbrüche, auch mal eine handfeste Schlägerei, geklaute Fahrräder – eigentlich nichts Außergewöhnliches, und dennoch: „Das Wohngefühl ist erstmal im Eimer, und die Gedanken, hier abzuhauen, sind stärker geworden“, sagt ein Anwohner. Woran liegt das?

Stadtsoziologen wie der Hamburger Jens Dangschat kramen bei solchen Fragen die Predigt aus der Schublade, die sie seit den Erfahrungen mit den Großwohnsiedlungen Steilshoop, Mümmelmannsberg und Kirchdorf-Süd der 60er und 70er Jahre halten: Daß „Satelliten auf der grünen Wiese“ohne soziale Infrastruktur keine funktionsfähigen Stadtteile werden. Sondern „Sachzwänge schaffen, die zur Folge haben, daß man die Menschen stärker als in gewachsenen städtischen Strukturen integrieren muß“. Genau das aber passiere nicht.

„Wir“, hält Bausenator Eugen Wagner (SPD) dem entgegen, „haben Prioritäten gesetzt und geben den Menschen erstmal ein Dach über dem Kopf.“Jährlich 5000 neue Wohnungen hat sich die SPD seit 1990 auf ihre Fahnen geschrieben. Drei Viertel der Wohnungen in Neu-Allermöhe-West sind öffentlich gefördert. Entsprechend ist die sozio-ökonomische Mieterstruktur, entsprechend gering das Interesse von Geschäftsleuten, Filialen mit anspruchsvollem Warenangebot zu eröffnen. „Fatal“findet es Dangschat, auf diese Weise arme, beschäftigungslose, einkommens- und artikulationsschwache Menschen zu Tausenden in den billigen Sozialwohnungen am Stadtrand zu konzentrieren. Um sie anschließend als „die stummen Inseln der Armut“zu behandeln, kritisiert GAL-Sozialpolitikerin Anna Bruns.

Vorgestern hat Bürgermeister Henning Voscherau ein Schulzentrum für rund 3.000 SchülerInnen – Gymnasium, Haupt-, Real- und Gesamtschule – in Neu-Allermöhe-West eingeweiht. Vorgestern, nach zwei langen Jahren, die die dortigen Kids über Bergedorf verstreut zur Schule gehen mußten. Wie soll Schule da Identität stiften? Heute gibt es Klassen mit 25 Kindern, von denen vier deutschsprachig sind. Kann das gut gehen?

„Nein“, sagt der Bürgermeister. Er räumt dann ein: „Es hat klare Managementfehler gegeben bei der Erstbelegung von Neu-Allermöhe-West.“Stadtentwicklungssenator Thomas Mirow (SPD), Saga-Chef Willi Hoppenstedt vom größten kommunalen Wohnungsunternehmen, Bergedorfs Bezirkschefin Christine Steinert (SPD), sie alle nicken betreten. „Die haben hier flächendeckend Leute reingesetzt, die alle nicht mit sich selbst klar kommen“, bringt es Anwohner Peter Weinberg auf den Punkt.

Weinberg, Professor für Sportwissenschaften an der Uni Hamburg und Hausbesitzer in Neu-Allermöhe-Ost („weil ich im Grünen wohnen wollte“), ist so einer, von denen sich Hamburgs Sozialdemokraten mit ihrer verfehlten Wohnbelegungspolitik plötzlich auch im Westen mehr wünschen. Im Frühsommer haben sie die Belegungsbindung – zunächst für drei Jahre – abgeschafft: Billige Sozialwohnungen dürfen jetzt auch von Besserverdienenden bezogen werden, ohne daß diese eine „Fehlbelegungsabgabe“zahlen müßten. „1999“, sagt der Bürgermeister, „kommt dann die Auswertung: Bringt dieses Absehen von den Einkommensgrenzen einen Positivknick nach oben in der sozialen Durchmischung?“

In Neu-Allermöhe-West können viele derweil diese Diskussion nicht mehr hören. „Ständig“sehe sie sich „mit der Stigmatisierung eines ganzen Stadtteils und seiner BewohnerInnen konfrontiert“, beklagt sich Pastorin Dietlind Jochims. „Man kann einen Stadtteil auch mit Populismus kaputtreden“, wehren sich andere, und der CDU-Spitzenkandidat Ole von Beust sagt: „Wir brauchen in den Großwohnsiedlungen einen Zuzugsstopp für Ausländer.“Dürfte er ab dem kommenden Wahlsonntag Hamburgs Wohnungspolitik bestimmen, würde er „den Eindruck vermeiden, nur Ausländer aus Nicht-EU-Staaten könnten in Hamburg eine Sozialwohnung bekommen“.

Auf der Bank vor der Sandkiste beobachtet ein Vater seinen Sohn. „Wir fühlen uns hier wohl“, sagt er dann. Sicher, die Architektur sei „vielleicht monoton“. Für die Kinder aber sei Neu-Allermöhe „ideal“: Viele Straßen sind verkehrsberuhigt, am Fleet läßt es sich im Sommer angeln, es gibt einen Baggersee. Wenn auch sonst „noch vieles fehlt“. Und daß man kaum Kontakt zu den rußlanddeutschen Nachbarn hat? „Die wollen das doch gar nicht“, wehrt eine Rentnerin ab.

Andreas Schewzoff (Name geändert) würde schon gern, aber, zuckt der 35 Jahre alte Mann aus Kasachstan die Schultern, „die meisten, die ich kenne, sind eben Russen“. Bei den Kindern sei das anders, „aber die sprechen auch besser Deutsch“. Und er? Ist froh, eine kleine Wohnung mit Bad und wieder eine Stelle zu haben, als Heizer bei Phönix. „In Rußland“, sagt er, „habe ich zwölf Monate kein Gehalt bekommen. Freiwillig wären wir nicht gegangen.“Weg, nach Neu-Allermöhe, wo es nicht mal einen Laden gibt. Schewzoff guckt belustigt: „In Rußland fährt man oft zwei Dörfer weiter und findet selbst da nichts zu essen.“

Daß das Bauen auf der grünen Wiese zum Scheitern verurteilt sei, glaubt Hamburgs Bausenator nicht: „Wir haben alles richtig gemacht“, entgegnete er der GAL-Spitzenkandidatin Krista Sager auf einer Diskussion zum Thema „Wohnen“. Sager fordert dagegen, „die 60.000 bis 80.000 in Hamburg durch Nachverdichtung möglichen Wohnungen zu bauen“, anstatt immer neue Flächen zu versiegeln. Auch müßten mehr innerstädtische Gebiete durch „soziale Erhaltensverordnungen“vor Wohnungs-Spekulation und Mietwucher geschützt werden. Nur so sei die Vertreibung finanzschwacher Mieter an den Stadtrand zu verhindern.

„Das mache ich schon allein“, sagt der Senator. In einer Woche sind Wahlen. Wagner sieht schon vor sich, was er danach gegen den Willen von GAL und CDU schaffen will: das Abbild von Neu-Allermöhe, südlich der Elbe auf einer Weide zwischen den Plattenbauten von Neuwiedenthal und Sandbek: Neugraben-Fischbek-15, 3.000 Wohnungen, 10.000 Menschen. Voraussichtlich backsteinrot.

Nur die „Anlaufschwierigkeiten“von Neu-Allermöhe-West, die sollen nicht wiederholt werden. Nie wieder.

Bis zum nächsten Mal.

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