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Auf der anderen Seite der Wahrheit

■ Die Gruppe babylon zeigt Ibsens Wildente als Nebeneinander von Realitätssentwürfen

„Um einer Wahrheit Dasein wird selten gestritten“, schrieb Ludwig Börne einmal: „Gekämpft wird nur um die Grenzen der Wahrheit.“Interessant aber ist: Was liegt hinter der Grenze? Die Lüge? Die Phantasie? Oder eine andere Wahrheit?

Gregers Werle ist von einem „akuten Rechenschaftsfieber“ergriffen, das manche gar ein „gichtisches Rechenschaftsfieber“nennen und damit gar nicht falsch liegen. Gregers' Aufklärungswille zerstört. Schleichend erst, dann tödlich. Als er erfährt, daß sein Jugendfreund Hjalmar Ekdal die ehemalige Haushälterin des Hauses Werle geheiratet und mit ihr ein Fotogeschäft eröffnet hat, das sein eigener Vater finanziert, beginnt Gregers zu kombinieren: Hjalmars 14jährige Tochter Hedvig ist unter Umständen nicht Hjalmars Tochter, sondern seine Halbschwester. Gregers stellt seinen Vater zur Rede, der das Verhältnis mit Ex-Haushälterin Gina gesteht.

Fortan hat Gregers nur noch einen Gedanken, eine Mission: Hjalmar über „die Wahrheit“aufzuklären. Der aber will sie gar nicht wissen. Er ist glücklich mit seiner kleinen, wenn auch samt Großvater und Wildente auf dem Dachboden etwas absonderlichen Familie. Und auch Arzt Relling warnt ausdrücklich vor den Folgen einer Überdosis Realität: „Nimm einem Menschen seine Lebenslüge, und du nimmst ihm sein Glück.“Doch Hjalmar, mit seinem ebenso hehren wie unerbittlichen Ideal des „Lebens im Geiste der Wahrheit“, nimmt. Daß „Ideal“nur ein Fremdwort für „einheimisch: Lüge“sein könnte, wie Relling vorschlägt, will nicht in seinen rationalen Kopf.

„Ich kann mich zwischen den Figuren selbst nicht entscheiden“, sagt Barbara Neureiter, die mit der Gruppe babylon Ibsens Wildente inszeniert hat: „Dieses sture Etwas-rausfinden-Wollen kann ich gut verstehen. Das Problem ist der Fanatismus. Da wird ein Ideal zur Lüge. So haben wir das Stück auch begriffen: Als Kritik am Fanatismus überhaupt.“Die Frage nach absoluter Wahrheit oder konkurrierenden Entwürfen von Realität stellte sich babylon schon bei ihrer letzten Produktion: Mit geistig Behinderten der Station 17 spielten sie eine überwältigende Fassung des Sommernachtstraums. „Wir haben damals zwei Welten zusammenkommen lassen, die ganz verschieden, aber in sich stimmig sind. Die Frage war: Gibt es nur zwei, die sich in „verrückt“und „normal“teilen? Oder sind da mehr?“

Ibsens Stück, das eine Vielfalt von Realitätsentwürfen und -bewältigungsstrategien nebeneinanderstellt, ist für babylon Basismaterial, das mit Texten u. a. von Nancy Friday, Bret Easton Ellis und Nietzsche ergänzt wird. „Heutiger“wollen sie die Situation machen, und so ist Hedvigs Selbstmord auch einer der Realität im Zeitalter der Medien: „Der Tod ist nur noch ein Spiel. Und Hedvig verspielt sich.“

Christiane Kühl

Premiere: Freitag, 19. September, 21 Uhr, Kampnagel, k1

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