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Herr Knoll wirft einen Rettungsring

Als hätten sie der Sensationen nicht genug gehabt, protestieren Bürgermeister und Bewohner im unteren Oderbruch hochdramatisch gegen eine Hochwasserschutzpolitik, die es noch gar nicht gibt  ■ Von Jens Rübsam

Otto Knoll ist ein feiner Mensch. Das sagen viele. Ein guter Werkstättenleiter, meinen die von der Genossenschaft. Einer, der sich nicht um Politik kümmert, sondern macht, was er für richtig hält, erzählen die Leute aus dem Dorf. Einer, der am Oderbruch hängt, weiß Tochter Evelyn: „Müßte er hier weg, könnte man ihn vergessen.“ Als es vor Wochen hieß, Neureetz werde evakuiert, harrte Otto Knoll, 59, als einziger aus. Tagsüber sah er in der Genossenschaft nach dem Rechten, nachts bewachte er Haus und Grundstück, und zwischendurch gab er Interviews. Knolls wohnen seit 250 Jahren in Neureetz – und es war ja auch sonst niemand da.

Alles umsonst? Langsam stapft Otto Knoll über den von Lastern zerfurchten Hohenwutzener Sandsackplatz. Vier Sandberge und einer aus Kiefernzweigen, in der Mitte ein alter Hänger aus LPG- Zeiten – mehr erinnert nicht daran, daß hier vor sechs Wochen, am Nachmittag des 30. Juli, die Oderbrüchler in glühender Hitze bis zum Umfallen Säcke vollschippten und Bundeswehrhubschrauber mit Netzen voller Sandsäcken im Minutentakt abhoben. Nur einen Kilometer weiter, „an der Achillesferse des Oderbruchs“, war der Deich auf 50 Meter abgerutscht. Der Damm drohte zu brechen, und dem Norden der Region drohte die Überflutung, wie Tage zuvor der Ziltendorfer Niederung. In letzter Minute konnte die Katastrophe verhindert werden.

Alles umsonst? Otto Knoll streift sich durchs Haar, blickt hinüber zu den Sandbergen, schüttelt den Kopf. „Da haben wir nun geschuftet, mit allen Kräften die Gefahr gebannt und nun? Nur noch Hiobsbotschaften!“ In der Zeitung hat er gelesen: Brandenburgs Umweltminister Matthias Platzeck (SPD) will den Hauptdeich in Hohenwutzen vorerst nur behelfsmäßig reparieren lassen. Dagegen sollen die Schlafdeiche im Hinterland aktiviert und erhöht werden. Einen Ansiedlungsstopp soll es geben. Und keine Baugenehmigungen mehr. Ist sein Oderbruch nun vom Aussterben bedroht? Diese Frage ist Knoll in den vergangenen Tagen immer wieder durch den Kopf gegangen.

Und dann ist die Angst der Wut gewichen. Otto Knoll ist in den Kreistag gefahren, um bei den Abgeordneten vorzusprechen. Höhere Schlafdeiche, hat er erklärt, bedeuteten, daß die zehn Gemeinden im Glietzener Polder – ein 250 Quadratmeter großes Gebiet im unteren Oderbruch – eingedeicht werden; daß das Wasser im Fall einer Flut 1,20 Meter oder gar 1,40 Meter höher stehen wird als ohne Schlafdeich; daß 6.000 Einwohner alles verlieren werden. Als daraufhin ein Abgeordneter nur laxe Worte fand: „Das höhere Wasser müssen Sie einsehen“, war es mit der Geduld des gutmütigen Menschen Otto Knoll vorbei. Er gründete die Bürgerinitiative „Rettet das Oderbruch“.

Seitdem solidarisieren sich Bürgermeister, werden Protestschreiben verfaßt: „Ein Polder ist eine eingedeichte Fläche, die im Notfall geflutet wird, um an anderer Stelle eine unkontrollierte Überschwemmung zu verhindern.“ Der Name Glietzener Polder, mit dem ihre Gegend neuerdings bezeichnet werde, sei schon lange auf keiner Landkarte mehr verzeichnet, empören sich die Bürgermeister. Erst jetzt, da Vertreter von Behörden und Politiker ihn verwenden, kursiere der Name wieder. Stimmungsmache?

„Hektikmache“, sagt der Vorsitzende des Altreetzer Geschichtsvereins. Die Bezeichnung Glietzener Polder sei immer geläufig gewesen. Doch die Bürgermeister toben: „In der Tat wird das untere Oderbruch zur Zeit eingedeicht.“ So zieht nun ein Gerücht über die Dörfer: Wir sollen geopfert werden bei der nächsten Flut; wir, die 6.000 Einwohner im Glietzener Polder für die 15.000 anderen im Oderbruch. Hans Kretschmer, Bürgermeister von Neureetz, spricht schon davon, daß die Opferung einen Fluch über das ganze Oderbruch bringen werde. Sicherheitshalber hat er schon mal an den „Sehr geehrten Herrn Bundeskanzler“ einen beschwörenden Brief geschickt: „Bitten setzen Sie diesem Vorhaben sofort ein Ende.“ Briefe der Bürgermeister an Kohl sollen folgen.

Auch der Amtsdirektor von Barnim-Oderbruch, Frank Ehling (CDU), schreibt dem Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) von möglichen „irreparablen Folgen“ seiner Politik bei den Bewohnern des Glietzener Polders: „Diese Schäden entstehen durch eine politisch motivierte Willensentscheidung der handelnden Verantwortlichen.“

Die Stimmung ist so gereizt, als stünde man unmittelbar vor dem Verlust von Haus und Hof – und als sei nicht gerade eine „Jahrhundertflut“ glimpflich überstanden. Die Bürgerinitiative sammelt Unterschriften, fast jeder unterschreibt. BI-Sprecher Axel Brück erzählt von einer Nachbarin, die aufgehört habe, ihr Haus zu renovieren, „weil sie meint, das bringt eh nichts“. Brück will die Stimmung auf den Punkt gebracht wissen, indem er gleich dreimal wiederholt: „Es ist dramatisch.“ Er merkt nicht, daß er sich an den Worten verhebt.

Die Sonne scheint auf das Oderbruch. In Altglietzen führen ABM-Frauen durch die Flut-Ausstellung. Frische Sandsäcke stehen brav nebeneinander. Der Bildband „Die Jahrhundertflut“ verkauft sich gut. Durch Hohenwutzen schieben sich Autos, in Richtung Grenzübergang Oderbrücke. Im Café „Carls Erben“ sitzen fröhliche Menschen und lecken Eis. Auf dem Deich schlendern Ausflügler und Hohenwutzener. Auf dem Sandsackplatz, am Ortseingang, formiert sich derweil der Volkszorn.

Otto Knoll steigt auf den Hänger, kramt, etwas ungeschickt, einen Zettel aus einer Mappe, „Sehr geehrte Teilnehmer der Demonstration“. Applaus. 500 Oderbrüchler stehen um den Hänger, elf Protestschilder ragen heraus, zu lesen ist: „Rettung fürs ganze Oderbruch“ und „Die Oder braucht uns nicht, aber wir brauchen unsere Heimat“ und „Oder ausbaggern und Deich verstärken“. Otto Knoll hält seine Kreistagsrede. Und dann spricht Axel Brück, der BI-Sprecher, der in sein Amt gewählt wurde, weil er am besten sprechen kann: „Die Lage ist dramatisch, ja dramatisch!“ Man habe ihnen gesagt, die Arbeiten am Hauptdeich seien losgegangen, aber nichts sei losgegangen, schimpft der BI-Sprecher vom Hänger hinunter ins Volk – und ruft zum Marsch ans Oderufer auf.

Die Demonstranten gehen über den Sandsackplatz zur Straße. Aus den Fenstern hängen skeptische Gesichter. Und Martin Müller denkt sich: „Das ist doch ein Schlag ins Gesicht all derer, die geschuftet haben, damit der Deich hält.“ Die Reden von Knoll und Brück hat er mit „halbem Ohr“ gehört. Sein Haus ist nicht weit weg vom Sandsackplatz. Was ihm dazu einfällt? „Profilierungssucht von einigen Leuten.“ Ja, und vielleicht das noch: „Mich stinkt das Ganze jämmerlich an.“

Martin Müller ist wütend. Er hat es noch nicht einmal geschafft, seine „Bude“ wieder einzuräumen. Jeden Tag war er unterwegs – er ist Mitarbeiter im Potsdamer Landesumweltamt –, und jedes Wochenende hat er geopfert. Dieses ist das erste freie. Und dann das! Die Bürgerinitiative! Die Demonstration! Für was eigentlich?

„Es wird am Hauptdeich gebaut, und ich werde genau hingucken, was da gemacht wird. Sonst brauche ich mich in Wutzen doch gar nicht mehr sehen zu lassen“, sagt Martin Müller. Er ist zuständig für die Deichbaustelle Hohenwutzen. Die Vermessungsarbeiten sind abgeschlossen, die Baustellenzufahrt ist verlegt, die ersten Maschinen sind da. Daß erst jetzt mit den Arbeiten begonnen wird, hat einen einfachen Grund: Der Deich war zu naß, als daß schwere Fahrzeuge hätten ranfahren können. Sagt Matthias Freude, Chef des Landesumweltamtes. Und er versichert der Bürgerinitiative, die bei jeder Gelegenheit auf das erste Winterhochwasser Ende November und auf die Schneeschmelze im März verweist: „Wir werden das schaffen, sonst könnte ich gar nicht in Ruhe schlafen.“

Freude ist richtig sauer auf die Bürgerinitiative, auch wenn er nur sagt: „Ich bin traurig.“ In Reitwein drehen sich die Maschinen, in Zollbrücke drehen sich die Maschinen, an allen zwölf Baustellen entlang des Oderdeichs drehen sich die Maschinen. Es wird Tag und Nacht gearbeitet. Die Landesregierung hat die Aufträge frei Hand an die Firmen vergeben, um lange Ausschreibungszeiten zu vermeiden. 20 Millionen Mark wurden im Sofortprogramm zur Verfügung gestellt, und das wird nicht reichen.

Und die Aktivierung der Schlafdeiche? Matthias Freude ist das Thema einigermaßen leid. Den Bürgermeistern im Glietzener Polder, die nun Protestbriefe unterschreiben, hat er die Situation immer wieder erklärt. Immer wieder haben sie genickt. Haben gesagt, sie glaubten ihm, und dann doch nur Stimmung gemacht. Nun also noch einmal: Die Sandsäcke, die auf den Schlafdeichen liegen, werden ausgeschüttet, übrigbleiben, wenn überhaupt, 40 bis 50 Zentimeter Erhöhung. Spurplatten werden verlegt, so wie es die Landwirte gewünscht haben; die Deiche werden befahrbar gemacht. „Es gibt keine Risikoerhöhung“, sagt Freude.

Und der Ansiedlungsstopp? Nie habe Umweltminister Platzeck von einem Ansiedlungsstopp gesprochen, verwahrt sich sein Sprecher. Nur davon, in bestimmten Bereichen des Oderbruchs und der Ziltendorfer Niederung mit Baugenehmigungen sensibel umzugehen und Großprojekte nicht mehr zu genehmigen. Schon das reichte, um sofort den brandenburger Bauminister auf den Plan zu rufen: Baugenehmigungen werde es auch in Zukunft geben, sagte der.

Und als Platzeck nach der Flut erklärte, die Landwirtschaft müsse sich umstellen und Grünlandwirtschaft statt Ackerbau betreiben, um größere Überflutungsflächen zur Verfügung zu haben, schaltete sich der Landwirtschaftsminister ein: Die Landwirtschaft sei der Hauptwirtschaftszweig in diesem Landstrich, man dürfe ihr nicht das Rückgrat brechen. „Daß Rückzugsräume für das Hochwasser geschaffen werden, daran müßten die Oderbrüchler doch am meisten interessiert sein“, stöhnt Matthias Freude. Doch statt sachlicher Auseinandersetzung begegne ihm derzeit vor allem Polemik und Panikmache.

Otto Knoll wischt sich den Schweiß aus der Stirn. Die Demonstration ist an der Oder angekommen. Bedächtig stapft Knoll ans Ufer, in der linken Hand einen Rettungsring. „Möge uns die Oder allzeit gut gesonnen sein“, ruft er gen Wasser – und das gerät ihm denn doch sehr dramatisch –, und dann er wirft den Ring („Rettet das Oderbruch“) seinen Worten nach.

Eine Weile schaut er dem Reifen hinterher. „Bei Vater geht es um Heimat und um die Existenz“, sagt Tochter Evelyn. Hat Knoll nun das Oderbruch gerettet?

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