: Die Kinder verschwinden
Familienbande I: Die Kulturrevolution der sechziger Jahre war rousseauistisch bis in die letzte Orgasmusstörung. Eine taz-Debatte zum Thema Familie ■ Von Alexander Arenberg
Es gab einmal ein berühmtes Buch von einem berühmten Mann: „Der Tod der Familie“ von David Cooper. Das lasen wir alle und meinten dann wie er, daß die Familie das mächtigste und böseste – damals sagte man reaktionärste – Instrument gesellschaftlicher Repression sei. Cooper war nicht der einzige, er war nur der Wildeste. Herbert Marcuse schrieb ähnliches, wenn auch feiner, die Kommunen experimentierten damit, und wir, die wir Kinder hatten, machten schleunigst Kinderläden auf. „Wir brauchen keine Väter und keine Mütter mehr“, meinte Cooper, und jetzt, 30 Jahre später, weinen die Kinder von damals den Vätern von damals, den längst geschiedenen, den Müttern von damals, den längst promovierten, nach.
Der Wind hat sich gedreht. Familie ist wieder in. Wer ist verrückt? Was ist passiert? Wir haben inzwischen verstanden, daß die Familie Repression ist, aber auch Freiheit; Physiologie, aber auch Ästhetik; Natur, aber auch Kultur; beides eben. Wer dialektisch zu denken bereit ist, wird das verstehen. In diesem Punkt aber war 68 ganz und gar undialektisch. Die Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre war reinster Rousseau, gesellschaftsfeindlich bis in die letzte Orgasmusstörung, falsches Bewußtsein.
Vielleicht fiel es deswegen so vielen so schwer, die Familie als die Verknotung von Evolution und Geschichte zu verstehen: Geschichte als evolutionäres Spezifikum des Homo sapiens und die Familie als die Eintrittskarte in Geschichte und Bewußtsein. Keine Institution verkörpert so sehr die Einheit von Animalität und Spiritualität wie die Familie: Hier wird der Mensch sowohl produziert als auch sozialisiert. Ohne die gemeinsam Hand in Hand über die Hochebene von Kenia trottenden Familien von Homo erectus gäbe es keine Sprache, keine Höhlenmalereien, keinen Homer, kein handelndes Subjekt. Die Familie – vom linken Bewußtsein verflucht und von den rechten Produktionsverhältnissen erledigt – ist die Metapher unserer intimsten Utopien. Sie verweist uns auf unsere tierische Vergangenheit und unsere – probieren wir es mal so: göttliche – Zukunft. Sie ist das, was uns von Heimat geblieben ist.
In allen Industrienationen gerät, zumindest statistisch, die Familie zum Spurenelement, in Deutschland besonders: geringe und abnehmende Zahl der Kinder, geringe und abnehmende Zahl der Ehen, hohe und zunehmende Zahl der Scheidungen. Geheiratet wird seltener und später, geschieden häufiger und schneller. Noch 1965 wurden etwa 12 Prozent der Ehen geschieden, heute sind es 30 Prozent. Kinder sind eine vom Aussterben bedrohte Tierart: Zwischen 1965 und 1975, in nur zehn Jahren also, sank die Geburtenhäufigkeit im Westen Deutschlands um 40 Prozent und liegt seither auf einem Niveau, das die Bevölkerung nur noch zu 60 Prozent ersetzt. Mit der Wiedervereinigung wurde die Geburtenrate in den neuen Bundesländern fast halbiert. 1,3 Kinder pro Ehe, beide Eltern mit anderem beschäftigt, in irgendeinem Beruf, nicht nur vaterlose, zunehmend auch mutterlose Gesellschaft, und doch galt das Kind noch nie so viel wie jetzt.
Es scheint einen Zusammenhang zwischen der Tatsache zu geben, daß wir immer weniger Kinder haben, immer weniger haben wollen, uns immer weniger um sie kümmern, sie in anderen Institutionen – erst in Schulen, dann in Vorschulen und schließlich in Kindergärten und Krippen – ablegen und auf der anderen Seite der ungeheuer anwachsenden Aufmerksamkeit und Bedeutung, die wir dem Kind widmen. Der verschwindenden Realität des Kindes in unserer Gesellschaft entspricht dessen Mythologisierung. Je weniger wichtig uns das reale Kind wird, um so wichtiger wird uns die Idee des Kindes. Je weniger reale Kinder wir haben, desto größer werden die sozialen, die pädagogischen, die medizinischen Aufwendungen, die wir in dieses verschwindende Kind investieren. Das reale Kind verschwindet, das ideale kommt. Einerseits geben wir Millionen aus, um künstliche Befruchtungen zu erfinden und zu praktizieren, andererseits treiben wir unsere Kinder ab wie noch nie: 1996 kamen in Berlin auf 1.000 Geburten 390 registrierte Aborte. Das ist allerdings so lange kein Widerspruch, wie wir verstehen, daß Kinder in beiden Fällen, also generell und zunehmend, Manipulationsgut sind: das Wunschkind als das Kind, dem man die Abtreibung erspart hat. Ohnehin ist die Frage der Abtreibung einem seriösen Diskurs entzogen. Sie ist längst entschieden: politisch. Der Anspruch der Frau hat sich als stärker erwiesen als der des Kindes. Damit haben wir uns entschieden, wie wir uns immer entscheiden: für die Gegenwart und gegen die Zukunft. Bei der Umwelt und bei den Renten, in der Bildung und eben auch in der Familie setzen wir auf hic et nunc und gegen Geschichte.
Wenn jemand von uns tatsächlich mal ein Kind hat, dann entzieht er sich lieber gleich: physisch, weil er ihm seinen Beruf vorzieht, seelisch, weil er es antiautoritär erzieht. Antiautoritäre Erziehung bedeutet Verweigerung: Verweigerung von Verantwortung, Verweigerung von Kultur, Verweigerung von Geschichte. Das Recht des Kindes auf progressive Selbstbestimmung benützen wir dazu, ihm unsere Autorität und damit unseren Schutz zu verweigern. Vielleicht ahnen wir, daß wir keine Autorität mehr haben, fürchten, daß wir mit den vielen anderen Autoritäten den Kampf nicht aufnehmen können, nicht aufnehmen wollen. Weil wir uns selbst gegenüber anspruchslos geworden sind, sind wir es auch unseren Kindern gegenüber. Alle jammern über den Einfluß der Massenmedien auf die Kleinen – und dann schenken wir ihnen zu Weihnachten einen eigenen Fernseher. Wir lassen die Kinder in einer zunehmend komplexer gewordenen und damit interpretationssüchtigen Welt allein. Antiautoritäre Erziehung zielt im wesentlichen auf die psychische Verwahrlosung des Kindes. Das hat seine politische Dimension: Immer mehr verweigern wir dem Kind seine Kultur und seine Geschichte. Die weltanschaulichen Milieus – Katholiken, Arbeiter, Bildungsbürger – haben wir verrotten und von Murdoch und Kirch die Tagesordnung diktieren lassen. Wenn Tradition nichts anderes ist als das zeitlich andere Ende der Zukunft, dann verweigern wir unseren Kindern auch alle Hoffnung, wenn wir ihnen, wie die DDR so schön sagte, das kulturelle Erbe der Nation nicht weiterreichen.
Nirgends klaffen Mythos und Wirklichkeit so weit auseinander wie beim Kind. Von Rousseau – gewissermaßen der Erfinder des Kindes – über Freud und Ariès ist das Kind in den Mittelpunkt unseres Gesellschafts- und Geschichtsverständnisses gerückt. Das Kind als der wahre Mensch. Alles andere Verfall. Aber wer bekommt in der realen Welt diese wahren Menschen? Die, die zu kurz gekommen sind. Oder auch umgekehrt: Wer vorankommen will im Leben, kann sich Kinder nicht leisten, zumindest kann er sich, wenn er sie schon hat, nicht um sie kümmern. Kinder sind eine leidige Restkategorie.
Jedenfalls ist die Familie eventuell bald obsolet, zunehmend auch als Produktionsstätte, als Sozialisationsstätte ohnehin und schon lange. Coopers Wunsch sollte in einer Weise in Erfüllung gehen, wie er es sich wohl doch nicht erträumt haben mag: „Wir brauchen keine Väter und keine Mütter mehr.“ Wir haben sie eh nicht mehr.
Wann begann der Fall der Familie? Mit dem Aufstieg der Liebe. Die Liebe ist der Tod der Familie. Wir alle wissen das, mehr noch: Wir leben es, Tag für Tag und täglich mehr. Jede Scheidung zerstört eine Institution im Namen des individuellen Glücks. Und dabei weiß doch jeder, daß die Chance, daß danach, nach der Scheidung, mehr individuelles Glück entsteht, gering ist. Wenn es um Glück geht in der Ehe, dann spielt das der Kinder keine Rolle. Man weiß längst, und keiner braucht es aufzudecken: Die seelischen Störungen bei Kindern aus geschiedenen Ehen sind lebenslang und tief. Auch die schöne Diana stammt aus einer geschiedenen Ehe. Da hilft die ganze alte satte Adelstradition der Spencers nichts. Wenn die Familie kein durch Moral und Gesetz geschütztes Gehege für unsere Küken ist, werden die Küken zu Geiern. Ehe will nur eines: Familie. Alles andere ist dem zu- und untergeordnet. Deswegen ist ja auch die Schwulenehe keine Ehe, sondern ein – wenn auch bezeichnendes – Mißverständnis.
In der Ehe geht es um etwas ganz anderes: um Geschichte. Wir, die wir Kinder sind und Kinder haben, wir sind Geschichte. Wir nähren das Bewußtsein der Epoche. In uns verknüpfen sich Vergangenheit und Zukunft, Biologie und Kultur. Wir sind die Welle, auf der Geschichte rollt.
Viele fragen: Was wird sich durchsetzen, Individuum oder Geschichte? Die Frage ist nicht schlecht, aber sie kommt zu spät. Denn längst hat das Individuum gesiegt. Die Identitäten haben sich von ihren Institutionen und damit von ihren Kontinuitäten befreit. Der heiße Augenblick, ohne Erwartung und ohne Gedächtnis, ohne Hoffnung und ohne Trauer, bestimmt unser Bewußtsein. Wenn, was nicht wenige behaupten, der Individualisierungsprozeß historisch notwendig und daher zu begrüßen ist, dann haben die Institutionen keine Chance: der Staat nicht und die Familie nicht – und alles, was dazwischen liegt, auch nicht. Aber was, auch das wird gelegentlich gefragt, ist der Preis?
Alexander Arenberg ist Medizinsoziologe an der Freien Universität Berlin
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