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„Mariko, warum willst du nach Berlin?“

Mariko ist 24 Jahre alt, Japanerin, kam als Touristin nach Berlin – und blieb. Jetzt schimpft sie, daß Sony vor ihr da war und der Potsdamer Platz nicht mehr leer ist. Eine Liebe auf den ersten Blick  ■ Protokolliert von Frank Rothe

Im Sommer 1993 kam ich das erste Mal nach Berlin. Eigentlich wollte ich nach England, da ich in London studieren wollte. San Francisco kannte ich schon. Damals wollte ich mir London anschauen, um zwischen den USA und Großbritannien zu entscheiden. Ich bin also los nach England. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich allein reiste. Eine Woche lang war ich in London, und dann fuhr ich durch ganz England, so zack, zack, zack. Ich hakte die Städte in kurzer Zeit ab, eben zack, zack, zack.

Insgesamt war ich einen Monat lang unterwegs. Ich war in Bath – jetzt muß ich in mein Tagebuch schauen, ich weiß gar nicht mehr so genau, wo ich noch so war – ach ja, Stonehenge habe ich mir angeschaut, und in Schottland war ich auch, um mir das Festival in Edinburgh anzusehen. Komischerweise habe ich in Schottland nur Deutsche kennengelernt.

Dann bin ich nach Amsterdam gefahren, nicht etwa wegen Dope. Ich war 20 Jahre alt, noch zu jung und eine seriöse Japanerin. Amsterdam war schön, aber auch nicht so überragend. Die Leute waren anders als in England. Holland ist kein „Sorry please“-Country. Die Menschen hier sind normaler als in Großbritannien.

Von Amsterdam aus wollte ich nach Berlin. Ein japanischer Schulfreund hatte mir in England von Berlin erzählt oder, besser, mich vor dieser Stadt gewarnt. Der sagte: „Mariko, warum willst du nach Berlin? Dort gibt es nichts. Eine Woche ist viel zu lang für diese Stadt. Es gibt nichts, Mariko!“

Ich bleibe immer eine Woche, nur wenn es mir gefällt, länger. Ich bin also von Amsterdam nach Berlin gefahren und kam am Bahnhof Zoo an. Kam an und dachte: „Warum ist es so ruhig hier. Es ist viel zu ruhig für eine Hauptstadt, und die Leute sehen so depressiv aus.“ Ich fand die Stadt nicht schön, und die Jugendherberge fand ich auch nicht gleich.

In meinem Tagebuch steht: 1.Tag Berlin – „Die Fahrt nach Berlin hat acht Stunden gedauert, die Jugendherberge ist sehr gut, und ich habe meine Wäsche gewaschen“. 2. Tag: „Mauer, Potsdamer Platz, Siegessäule, Stück von der Mauer gekauft, bekam DDR- Flagge geschenkt, Ku'damm – trank mit einem Souvenirverkäufer Kaffee, habe mich erkältet und war schläfrig.“ 3. Tag: „Fahre zum Alexanderplatz, habe dort eine Banane gegessen und afrikanische Musik gehört, traf vier Algerier und einen Franzosen und sprach mit ihnen, einer sprach englisch, die anderen nur französisch.“

Die Algerier haben mir das „Night-life“ von Berlin gezeigt, den Prenzlauer Berg, kaputte Hinterhäuser, die East-Side-Gallery und die Bötzowstraße. Na ja, da ganz in der Nähe wohne ich jetzt, lustig, was. Jetzt wohne ich also selbst in Prenzlauer Berg.

Die Ostseite Berlins hat mir sofort viel besser gefallen als der Ku'damm. Im Osten lief die Zeit langsamer als im Westen. Und der Potsdamer Platz, das war schon Wahnsinn. Es gab nichts dort. Solche Städte kannte ich vorher nicht. Ich fragte mich: „Warum gibt es soviel leeren Raum im Zentrum?“ Wäre das in Japan, schon am nächsten Tag würden sie bauen. Ich liebte diese Leere am Potsdamer Platz und hatte Angst, daß gleich etwas kommt, ein Kran oder so etwas.

Wenn gebaut wird, wird eines Tages alles viel schneller gehen. Es wird keinen Platz mehr geben und auch keine Zeit. Schon damals dachte ich: „Mariko, du bist viel zu spät nach Berlin gekommen.“

Ich blieb also zwei Wochen in der Haupstadt, und als ich nach Japan zurückkehrte, waren meine einzigen bleibenden Reiseerinnerungen die an Berlin, nichts anderes. Meine Freunde in Japan konnten die Begeisterung nicht verstehen. „Warum hast du so etwas gemacht, wieso bist du mit Algeriern irgendwohin gegangen? Hattest du keine Angst?“

Als ich am nächsten Tag in die Universität bin, war ich nur noch zur Hälfte da. Diese Scheiß- „Rush-hour“ in Japan, diese langweiligen Leute. Ich konnte nicht mehr. Was sollte ich bloß machen?

Ein halbes Jahr später, im März 1994, kaufte ich mir ein Ticket nach München. Dort wohnte eine Freundin, die ich in Edinburgh kennengelernt hatte. In München blieb ich nur eine Woche. Die Stadt war mir zu sauber. Dann fuhr ich nach Berlin, wo ich drei Wochen blieb. Als erstes ging ich auf den Alexanderplatz. Ich habe mich so gefreut: „Hey, wieder Berlin, das war sooo geil.“

Mit meinen alten Freunden hatte ich mich verabredet, doch keiner kam. Erst am nächsten Tag traf ich einen. Dann war alles wie beim letzten Mal, aber trotzdem anders. Ich konnte schon allein durch die Stadt laufen. Ich war immer verliebt. Aber das ist privat.

Mit der Szene kam ich in der Akademie der Künste in Kontakt. Dort war eine Ausstellung unter dem Titel „dead chicken“, und ich sah mir diese großen Pappmachémonster an und dachte: „O Berlin, verrückt, verrückt.“ Dann traf ich einen der Künstler – aber das ist meine Privatsphäre.

Wenn ich mein Gefühl für Berlin beschreibe, dann kann ich nur sagen: „Alles ein bißchen grotesk.“ Am besten gefällt mir die Oranienstraße in Kreuzberg, der Kollwitzplatz und das Tacheles. In Japan existiert so etwas nicht, solche kaputten Gebäude gibt es bei uns nicht, mitten im Zentrum.

Am Potsdamer Platz sah ich in der U-Bahn eine Werbeschild von Sony – Potsdamer Platz Projekt. Scheiße, sie kommen schon und ich kann nichts machen. Ja, damals fuhren kaum Autos über den Potsdamer Platz, das Nikolaiviertel in Berlin-Mitte war auch leer. Jetzt ist alles anders.

Als ich wieder in Japan war, dachte ich: „Mariko, schließ dein Literaturstudium ab und ziehe nach Berlin.“ Also machte ich die Uni fertig, und am 12. April 1995 ging ich nach Berlin. Erst mußte ich noch einen Sprachkurs am Goethe-Institut absolvieren. Und dann schrieb ich mich an der Universität ein, damit ich keine Probleme mit dem Aufenthaltsvisum bekäme. Jetzt studiere ich an der Humboldt-Universität Russisch. Wie immer wegen der Leute. Im Juni 1995 traf ich in Kreuzberg Russen. Es war Vollmond, ich konnte nicht schlafen, und deshalb ging ich spazieren. In einer Galerie traf ich dann diese russischen Künstler. Meine Antennen stellten sich auf und – aber das ist privat.

In meinem ersten Berliner Jahr wohnte ich bei dem deutschen Künstler aus der Akademie der Künste, wollte dann aber ausziehen und etwas für mich finden. Eines Tages spazierte ich in der Oranienstraße und traf eine Bekannte. Die sagte: „Hey, du bist doch Japanerin, in unserer WG ist noch ein Zimmer frei.“ Ich zog dorthin.

In der WG wohnten ein Amerikaner, der Schlagzeug spielte, eine deutsche Studentin und eine kanadische Sängerin. Erst war es ziemlich klasse, dann wurde es schwierig, es waren so verschiedene Leute. Die Hauptmieterin schmiß später alle raus. Ich hatte zum Glück schon eine Wohnung. Meine japanischen Freunde hatten mir dabei geholfen. Ich habe so an die acht japanische Freunde. In Berlin leben vielleicht an die 1.000 Japaner. Viele von ihnen wohnen im Grunewald. Sie sind Angestellte. Meine Leute sind Studenten, eine Tänzerin und eine Journalistin.

Dann kam die Ausstellung „Moskau–Berlin“, und 1995 fuhr ich mit meinen russischen Freunden nach Moskau. Ich dachte, Moskau sei wie Berlin. Einen Monat war ich in Moskau, eine starke Stadt. Mir gefielen die Leute sehr. Im Vergleich zu Berlin ist es in Moskau sehr einfach zu entspannen. Man wird sofort akzeptiert. In Berlin muß man sich zu sehr einbringen. Hallo, ich bin hier. In Berlin spielen viele ein sehr cooles Spiel. Die Leute sind etwas oberflächlicher als in Moskau. Man braucht viel Zeit, um sich richtig kennenzulernen. Nach Moskau fuhr ich noch mal zurück nach Japan, für einen Monat. Ich schickte alle meine Sachen nach Berlin. Ich wollte nicht mehr in Japan bleiben. Dort ist kein Platz für mich. Dort kann man nicht man selbst sein. In Berlin habe ich viel Zeit für mich. In Japan gibt es zu viel Streß, zu viele Augen, die einen anschauen, zu viele Informationen, Krach, Bewegung. Die Geschwindigkeit ist nicht meine. In Berlin fand ich mein eigenes Tempo.

In Japan ist alles sehr genormt. Man fragt dort: „Wo studierst du, und nicht was studierst du. In welcher Firma arbeitest du, und nicht, was macht du.“ Wenn ich Berlin und Osaka vergleiche, kann ich nur sagen, daß es einen großen Unterschied zwischen Zeit und Raum gibt. In Japan läuft die Zeit schneller, und es gibt weniger Raum. In Berlin treffe ich viele neugierige Menschen. So etwas kann ich in Japan nicht finden.

Der Japaner schaut nach den anderen und macht es ihnen nach. Wenn der Russe etwas machen will, geht er einfach los und macht es. Der Berliner fragt sich ständig, warum er das überhaupt macht, was er macht. Was ich in der deutschen Sprache nicht mag, ist die Frage: „Na, wie geht's?“ Besonders diese „Na“ finde ich Scheiße. Das Wort „Einstürzende Neubauten“ mag ich. Im Russischen gefällt mir „Schto delatsch?“ (Was tun?)

In Berlin habe ich Sehnsucht nach japanischem Essen und unserem Neujahrsfest. Was mir hier gut schmeckt, ist Brot, Käse, Butter und Joghurt. Manchmal mache ich mir zu Hause japanisches Essen: Nudeln, Suppe, Reis. Ich bin auch oft in der „Berlin-Tokyo-Bar“ und verkaufe dort Sushi.

Wenn ich kein Problem mit dem Visum bekomme und wenn Berlin so interessant bleibt, bleibe ich auch. Berlin sieht auf den ersten Blick nicht sehr schön aus – zu viele Baustellen, und manchmal ist der Himmel zu grau und zu schwer. Aber der Berliner Himmel ist ja dafür bekannt.

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