: Die AKW-Krokodile
Lebensspendende Wärme aus dem AKW für die Krokofarm an der französischen Rhône – ein wirtschaftlicher und völlig unverkrampfter Umgang mit der Atomkraft ■ Von Günter Liehr
Die Rhône muß mal einen starken Eindruck gemacht haben. Für den amerikanischen Europareisenden Henry James war sie „dieser große launische Fluß, der nie vergessen hat, daß er das Kind der Berge und Gletscher ist“, und noch 1961 wurde von Wolfgang Koeppen „der schöne kräftige Fluß der Rhône“ gepriesen. Zumindest südlich des Großraums Lyon ist heute von Kraft und Wildheit wenig zu spüren. Auch Flüsse haben eben ihre Schicksale. Von den Millionen, die hier per Kfz oder TGV durchs Rhône-Tal dem Mittelmeer entgegenbrausen, haben nur wenige einen Blick für den Strom, der doch immerhin diese praktische Verkehrsschneise einmal gegraben hatte. Was ist das aber auch für ein langweiliger Fluß! Kein Schiff weit und breit. Nüchtern und bleiern schwappt er in seinem Betonkorsett dahin. Auf französisch ist die Rhône männlich und heißt le Rhône, indessen: von Virilität keine Spur. „Monsieur Rhône“ kommt einem vor wie der Kapaun unter den Strömen. Dreizehn Staustufen von Lyon bis zur Mündung haben das einst so wilde Tier kastriert, dazu zieren den Unterlauf fünf Nuklearkomplexe auf bloß 209 Kilometern. Zu den Namen der großen „Côtes du Rhône“-Crus, – Condrieu, Hermitage, Côte-Rotie, Cornas, Saint Joseph, Chateauneuf-du-Pape – haben sich somit andere Landmarken wie Cruas-Meysse, Pierrelatte, Tricastin oder Marcoule gesellt. Was bleibt vom einstmaligen „Feind alles Gradlinigen“, vom „Irrläufer, Verwüster der Deiche“, klagt Rhône-Chronist Bernard Clavel, ist nurmehr „ein totes Wasser, das noch deinen Namen trägt, alte Rhône“. Aber gemach! „Verwüster der Deiche“, das will doch eigentlich niemand. Man kann es auch anders sehen: Der Strom hat eben nach Beendigung seiner Sturm-und-Drang-Zeit eine neue nützliche Karriere als Energie- und Kühlwasserlieferant begonnen. Sowie als Entsorgungsrinne: Er leistet die größte Schadstoffeinspeisung ins Mittelmeer, transportiert 500.000 Tonnen organische Abfälle, führt über 700 Tonnen Arsen und Kupfer, Blei und Cadmium dem Mare nostrum zu. Dort übernehmen dann die Selbstheilungskräfte der Natur.
Aus der Rhône, dem einstigen Schrecken der Schiffer, wurde somit eine nüchterne Serviceeinrichtung. Dennoch, auch nach ihrer Herrichtung zum Nutzfluß leistet sie sich bisweilen Capricen. So ist als erstaunliche Neuigkeit zu vermelden: das Rhône-Krokodil! Das wollen wir nicht verpassen auf dem Weg an die Côte d'Azur. Es lauert gleich hinter Montélimar, der Nougatkapitale, deren klebrige Freude marktschreierisch am Straßenrand angepriesen wird. Auf der westlichen Seite des Tals dräuen dunkel die Berge der Ardèche, und unweit des Städtchens Pierrelatte schieben sich „Les Dames blanches“ ins Bild, die Weißen Damen – so werden liebevoll die Kühltürme des nahen Atomkraftwerks mit ihren wolkigen Hauben genannt. Hier biegen wir rechts ab, den Schildern zur „Ferme aux crocodiles“ folgend, um eine lehrreiche und amüsante Pause einzulegen. Der Weg führt ins Schwemmland, zwischen ein paar vernachlässigten Obstbaumreihen hindurch zu einer Art überdimensioniertem Gewächshaus. Auf dem frisch mit Kies aufgeschütteten Parkplatz Pkw und Busse nördlicher Herkunft, daneben, aus groben Balken gezimmert, der ganz neue, rustikale Picknickplatz, wo schon eine holländische Familie Mitgebrachtes verzehrt. Ein merkwürdig unattraktives Plätzchen im No-man's-land der Flußauen. Aber egal, 40 Francs entrichtet und hinein in das gläserne Bauwerk! Gleich umgibt uns schwülwarme Luft sowie ein Soundtrack aus fremdartigem Vogelgeschrei, und tatsächlich, dort lungern sie herum, kreuz und quer auf ihrem Betonstrand übereinandergeschoben oder reglos im Wasser floatend, an die 400 Exemplare des Typs Crocodilus niloticus, alle mit diesem maliziös-zufriedenen Grinsen. Es liegt nahe, daß den Kindern Zweifel kommen. „Papa, die bewegen sich ja gar nicht! Sind die echt?“ Stimmt schon, Krokodile sehen ja gerne aus, als wären sie aus Gummi oder Plastik. Aber nein, alles ist authentisch: die Reptilien, die exotischen Pflanzen, die in den Bäumen kreischenden afrikanischen Vögel – Natur pur unterm Glasdach.
Schöpfer der Ferme aux crocodiles sind die Brüder Marc und Luc Fougeirol, ideenreiche Söhne eines ortsansässigen Gemüsebauern. „Das Projekt wurde aus einer Leidenschaft geboren!“ erklärt Luc, ein alerter Mittdreißiger mit kariertem Hemd und selbstbewußter Miene. Schon mit zwölf Jahren besaß er einen kleinen Caiman, seitdem hat ihn die Begeisterung für Reptilien nicht mehr verlassen. Schließlich war der Gedanke einer Kroko-Farm herangereift. „Natürlich haben mich anfangs alle für verrückt gehalten.“ Pah! Er hat's ihnen gezeigt. Grimmig-triumphierend schweift sein Blick über Europas erste, größte, schönste Krokodil-Zuchtanlage. Der Erfolg läßt sein Auge blitzen. „Wir hatten ziemlich viel Glück“, räumt er mit souveräner Geste ein. „Es gab ein Zusammenspiel günstiger Umstände ...“ Wohl wahr. Die Weißen Damen draußen würden dazu nicken, wenn sie könnten.
Krokodile brauchen, wie man weiß, tropische Temperaturen, und hier in Pierrelatte ist Wärme spottbillig zu haben. Die Anlage wird mit Abwässern der Urananreicherungsanlage Eurodif beheizt. Ohne Atomkraft keine Rhônetal-Krokodile. Und die Rhône bringt das Kühlwasser als Heiz- und Badewasser zu den fremdländischen Insassen.
Als 50 Zentimeter lange und 800 Gramm schwere Babys waren sie 1991 aus Südafrika eingeflogen worden, in Spezialkisten verpackt. In Pierrelatte eintönig, aber regelmäßig ernährt mit Geflügelabfällen aus industriellen Brathähnchen-Batterien, nähern sie sich jetzt der Drei-Meter-Marke. Seit ihrer Eröffnung im Sommer 1994 hat sich die Ferme aux crocodiles in Nullkommanichts zu einem Besuchermagneten entwickelt. „Zu uns kommen Busse aus England, Holland, Deutschland!“ strahlt der Gründer. Es kommen 200.000 zahlende Gäste pro Jahr, im Winter werden vor allem Senioren herangekarrt. Dabei war der Publikumsverkehr in der ursprünglichen Planung nur ein Nebenaspekt. Primär sollten Häute für die französische Lederwarenindustrie produziert werden und – warum nicht? – Krokodilsteaks für ein angeschlossenes Spezialitätenrestaurant. Aber die explodierende Produktion südostasiatischer Farmen hat zu einem Preiseinbruch bei Kroko-Leder geführt. „Wir mußten einsehen, daß für uns eine Entwicklung in diese Richtung nicht rentabel gewesen wäre.“
Auch aus dem Restaurant wurde nichts, denn der Konsum von Krokodilfleisch ist in Frankreich verboten. So ließ man die Verarbeitungsidee fallen und orientierte sich um auf rein touristische Nutzung. Über die anfänglichen Pläne spricht der Reptilienfan offenbar nicht so gern. Die Besucher, die seit Juli 1994 so erfreulich zahlreich herbeiströmen und die neue Rhône-Fauna bewundern, sollen nicht durch Vorstellungen des Häutens und Schlachtens verwirrt werden. Ganz im Vordergrund steht jetzt die Liebe zum lebenden Tier. „Spazieren Sie unter Riesenfarnen und Cycadaceen, umgeben von Seerosen und blühenden Pflanzen, durch den naturgetreu nachgebildeten Lebensraum der Krokodile“, heißt es im Faltblatt. Schautafeln klären auf über Charakteristika und Gewohnheiten der stillen Insassen, ebenso aber auch über die Wohltaten der benachbarten Nuklearanlage, mit deren Abwärme nicht nur 2.500 Wohnungen, 47 Hektar Gewächshäuser und die Sporteinrichtungen der Stadt Pierrelatte, sondern eben auch diese einzigartige Reptilienzucht beheizt wird.
Mochten sich andere zu Beginn lustig machen, Ermutigung und finanzielle Unterstützung fand das Vorhaben bei Frankreichs Staatsfirma für nukleare Brennstoffe, der Cogéma. Die von der Atomkraft lebende Stadt Pierrelatte beteiligte sich ebenso wie das Département Drôme, im übrigen fanden sich günstige Bankkredite. Die Fougeirol-Brüder hatten die richtige Idee zur rechten Zeit. „Die Leute von Eurodif sehen hierin eine bedeutende Aufwertung“, freut sich Luc. Solch ein pragmatisch-unverkrampfter Umgang mit der nuklearen Chose entspricht so recht der PR-Strategie, die Frankreichs Nuklearindustrie im Anschluß an die dumme Tschernobyl- Geschichte lancierte, um den durch Verschweigen und Fehlinformation hervorgerufenen Vertrauensverlust wieder auszubügeln. Statt der zuvor üblichen Geheimniskrämerei hieß es nun: „Die Kraftwerke müssen entmystifiziert werden!“ Gefördert wird seither zum Beispiel die Besichtigung von AKW. Die Betreibergesellschaft Electricité de France (EDF) hat dazu einen Reiseführer zu industriellen und technischen Monumenten der Region Rhône-Alpes herausgebracht. Ein paar Kilometer nördlich von Montélimar entstand auf Initiative der EDF das monumentalste Gemälde Europas: die 135 Meter hohe, 13.000 Quadratmeter große Freske zeigt ein kleines Mädchen, das aus einer Muschel Wasser ausgießt. „Wasser und Luft verbinden den Menschen mit der Natur und dem Leben“, lautet offiziell das Thema. Dem Künstler Jean-Marie Pierret stand für die Realisierung dieses Werks einer der mächtigsten Kühltürme des Atomkraftwerks von Cruas zur Verfügung. Man kann es vom Fenster des Hochgeschwindigkeitszuges TGV aus bewundern, desgleichen von der Nationalstraße und von einem eigens eingerichteten Rastplatz der Autobahn. Nicht nur sind Frankreichs Atomkraftwerke sicher und technisch perfekt, sie dürfen nun auch als ästhetische Bereicherungen gelten.
Was also die Idee mit den Krokodilen betrifft, so konnte sie vom nuklearen Gewerbe nur unterstützt werden. Lebensspendende Wärme aus dem AKW, das macht sich gut. Ein Publikumsmagnet, der sich der Atomkraft verdankt, so etwas dient zweifellos der Akzeptanzförderung. Luc Fougeirol weist überdies auf den Nutzen für die Wissenschaft hin. Gelegentlich seien schon Mitglieder des Steering Committee of the Crocodile Specialist Group angereist. „Klar, daß wir uns freuen, wenn Forscher und Studenten zu uns kommen!“
Ein Beweis für die Seriosität des Unternehmens. Aber auch normalen Besuchern wird ein Bildungserlebnis geboten. Der Professor de Buffrenil, renommierter Reptilienspezialist vom Pariser Museum für Naturgeschichte, hat die volkspädagogische Aufbereitung der Kroko-Farm besorgt. „Das Krokodil ist ein mythisches Tier“, erklärt Monsieur Fougeirol die Anziehungskraft des trägen Reptils, „es hat die Leute nie gleichgültig gelassen. Immer war es ein Dämon oder ein Gott.“
Der nuklear beheizte Reptilienpalast hat sich zur meistbesuchten Touristenattraktion des Départements Drôme entwickelt und solche altmodischen Angebote wie Madame Sévignés Schloß Grignan auf die hinteren Plätze verwiesen. Und wie geht es weiter? Großartige Perspektiven zeichnen sich ab. „Nie beenden Krokodile ihr Wachstum, und manche werden über hundert Jahre alt“, belehrt uns der Züchter. Derweil verschlingen die noch recht jugendlichen Exemplare ihre zwei Kilo Hühnerköpfe pro Tag und wachsen unmerklich vor sich hin. „Man muß sich vorstellen, daß diese Krokodile hier in zehn Jahren dreimal so groß sein werden. Und wir träumen davon, daß auch wir uns in zehn Jahren um das Dreifache vergrößert haben: Das Becken dreimal so groß und dreimal so viele Besucher!“ Das Rhônetal-Krokodil jedenfalls setzt auf die Zukunft der Atomkraft. Schon im Interesse des Nachwuchses. Denn die Kleinen, die demnächst hier schlüpfen, sollen in westafrikanischen Feuchtgebieten freigesetzt werden, um die dort schrumpfenden Bestände aufzubessern. Das ist nun wirklich ökologisch.
Wie Glucken hocken die Weißen Damen in der Landschaft und schauen wohlgefällig auf das erfolgreiche Unternehmen herab. Der alten Rhône sei Dank! Ihre Wasser schießen, nachdem sie im Kühlkreislauf des AKW Dienst getan haben, über die künstliche Kaskade ins Kroko-Becken, umspülen die hartleibigen Saurier, die dort weiter wachsen bis zum jüngsten Tag, und erheben sich gleichzeitig als watteweißes Gebilde über den Kühltürmen in den blauen Himmel des französischen Südens.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen