Die Verkündigung des Erfurter Wortes

Wie wird aus einem Stück Papier Politik? Vor neun Monaten führte die „Erfurter Erklärung“ zu einem kleinen politischen Beben. Jetzt kämpfen die Initiatoren auf einem Kongreß dagegen, vergessen zu werden  ■ Von Jens König

Erfurt (taz) – Der Flur in der zweiten Etage des alten Erfurter Gewerkschaftshauses ist nur spärlich beleuchtet. Es ist einer von jenen langen Gängen, die, wenn sie überhaupt je ein Ende haben, mindestens bis Bukarest führen. Hinter einer der unzähligen Türen sitzt Barbara Schirlitz. Sie ist eigentlich arbeitslos. Aber für ein paar Monate hat sie einen Job gefunden – ehrenamtlich, ohne Bezahlung. Sie sammelt Unterschriftenlisten. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Immerhin wird in ihrem kleinen Büro die Republik in ihren Grundfesten erschüttert.

Barbara Schirlitz ist so etwas wie das Koordinierungsbüro der „Erfurter Erklärung“. Dieses Papier „für die soziale Demokratie“ hat Anfang des Jahres ein kleines politisches Beben im Land ausgelöst. Für einen kleinen Moment war es wie früher; die Fronten schienen wieder klar zu sein: hier die Guten, da die Russen. Einige hatten plötzlich sogar wieder Schaum vorm Mund. Von der fünfseitigen Erfurter Erklärung blieb meist nur ein Satz hängen: SPD und Grüne sollten sich mit der PDS zusammentun, wenn dadurch eine Ablösung der Kohl-Regierung möglich sei. „Volksfront!“ schrie es von rechts. „Verrat an der Demokratie!“ riefen die bekannten DDR-Bürgerrechtler. „Haßprediger, die sich in Erfurt zusammenrotten und ihr Haupt erheben“, nannte sie Helmut Kohl. Friedrich Schorlemmer und Günter Grass beschimpfte er als „intellektuelle Anstifter“. Die Einnahme Bonns durch Erfurt stand kurz bevor.

Die Kurve öffentlicher Erregung nahm aber auch bei diesem gesellschaftlichen Umsturzversuch ihren erwarteten Verlauf – erst ging sie nach oben und vier Wochen später nach unten. Plötzlich standen die Intellektuellen mit ihrem Papier wieder ganz alleine da. Mochten sie angesichts des Schlachtenlärms am Anfang noch gehofft haben, ein paar prominente Unterschriften reichten, um Bonn zu ärgern, wurde ihnen jetzt wieder klar, daß auch angesichts von Millionen Arbeitslosen ein Stück Papier nur ein Stück Papier ist. Was macht man, wenn eine politische Erklärung alle möglichen guten Wünsche auflistet, aber keiner da ist, der diese Wünsche erfüllt? Wie bringt man einen Aufruf zum Machtwechsel in Bonn unter die Massen? Wie wird aus einem Stück Papier Politik?

Da Intellektuelle den geistigen Anstoß mögen, aber nicht so sehr das schwierige Tagesgeschäft, wußten die Erfurter Erklärer zunächst auch keine richtige Antwort. War ihr politischer Appell, wie so viele zuvor, auf dem Weg alles Irdischen? Dagegen stand, daß die Initiatoren mit Anfragen überhäuft wurden. Friedensgruppen, kirchliche Gemeinden, Gewerkschaftsverbände, politische Vereine – die Erstunterzeichner sollten zu ihnen kommen und ihnen das Wort aus Erfurt verkünden.

So machten sich einige der Prominenten – die Schriftsteller Dieter Lattmann und Daniela Dahn, die Theologen Heinrich Fink und Heino Falcke, die Gewerkschafter Frank Spieth und Bodo Ramelow – auf und zogen Woche für Woche durchs Land, um die Republik zu verändern. Sie erklärten, diskutierten und redeten gegen den Frust und die Mutlosigkeit der Menschen an – anfangs fast nur im Osten, später mehr und mehr auch im Westen, vornehmlich in übriggebliebenen Friedens-, Öko- und sozialen Gruppen. Im Osten trafen sie auf fast jeder Veranstaltung auf die Erwartung, sich als Partei zu organisieren und den Menschen zu helfen, sie anzuleiten. Im Westen hingegen wurde intellektueller diskutiert. Die Probleme wurden da oftmals noch als politische Phänomene und nicht unbedingt als eigene Erfahrung wahrgenommen. Je mehr aber die Erfurter Erklärer durchs Land reisten, desto weniger interessierte sich im politischen Tagesgeschäft in Bonn noch jemand für ihre Erklärung.

Der Theologe und Erstunterzeichner Heino Falcke, ein Vordenker der DDR-Protestanten, denkt nicht in Bonner Kategorien. Der 68jährige ist seit Jahrzehnten in Basisinitiativen aktiv und weiß, wie mühselig der Weg einer Bürgerbewegung ist. „Die Erfurter Erklärung lebt“, sagt er. „Es geht langsam, aber stetig voran.“ Fast 42.000 Menschen hätten bis heute unterschrieben, über 250 regionale Gruppen würden im Osten und im Westen arbeiten. Heino Falcke registriert auch einen gesellschaftlichen Stimmungsumschwung. „Unsere Forderung nach einer anderen Regierung und nach einer anderen, sozialen Politik war vor neun Monaten noch wie ein Tabubruch. Heute ist die Forderung gesellschaftlich anerkannt.“

Für die Erstunterzeichner ist aus der Erfurter Erklärung heute eine breite Bürgerbewegung geworden, die in die Parteien hineinwirkt. Wen von ihnen man auch immer fragt, worin sich das äußert – man erhält stets die gleiche Antwort: Erstens hat Richard Dewes (SPD), thüringischer Innenminister und Vertrauter Oskar Lafontaines, die Erklärung gerade unterzeichnet, zweitens kommen Jürgen Trittin (Grüne) und Wolfgang Thierse (SPD) zum Erfurter Kongreß, den die Erstunterzeichner an diesem Wochenende veranstalten, und drittens hat darauf Wolfgang Schäuble sogar im Bundestag reagiert und Thierse vorgeworfen, an einer „Gegenveranstaltung am Tag der deutschen Einheit“ teilzunehmen.

Die Parteien selbst merken von diesem Erfurter Einfluß auf sie nichts. Wolfgang Thierse und Jürgen Trittin sind demonstrativ gelassen. Die meisten politischen Forderungen der Erfurter Erklärung würden sie ja auch teilen, aber die geforderte Zusammenarbeit mit der PDS betrachten beide übereinstimmend als „gefährlichen Irrtum“. Ansonsten ist für sie die politische Bewegung nichts, was aus dem eigenen kleinen Dunstkreis herauskomme. Die Erfurter Erklärer fühlen sich von solchen Reaktionen bestätigt: „Typisch Parteien“, sagt Heino Falcke. „Veränderungen beginnen immer dort, wo sie es nicht bemerken: in kleinen Winkeln der Gesellschaft.“