piwik no script img

Literaturschauplatz Siebenbürgen

■ Transsylvanischer Mythos des 19. und spießig-totalitäre Realität des 20. Jahrhunderts

Kürzlich auf einem internationalen Verlegertreffen hat Salman Rushdie den Roman gegen den aktuellen Trend in Richtung Faktenliteratur (Reportage, Biographie etc.) verteidigt. Der Roman sei genau jene Mischform aus Fakt und Fiktion, „teils Erkundung gesellschaftlicher Verhältnisse, teils Phantasiegebilde, teils Beichte“, die den heutigen Bedürfnissen nach Authentizität einerseits und Subjektivität andererseits nachkommt. Was also spricht dagegen, sich über Siebenbürgen und Banat nicht bei Reiseführern, sondern bei Romanen zu erkundigen. Die legen zwar eher ein Zeugnis ab von dem Begriff, den sich die Autoren von diesem Land machen, aber gerade das kann die Lektüre interessant machen.

Jules Verne und Bram Stoker verlegten ihre Schauerromane „Das Karpatenschloß“ (1892) und „Dracula“ (1897) deshalb nach Transsylvanien, weil es gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr so viele Gebiete gab, in denen nach Meinung aufgeklärter Zeitgenossen noch das Mittelalter vorherrschte. Siebenbürgen, wie das Land im Deutschen gewöhnlich bezeichnet wurde, bot sich an. War es doch einerseits Hort zahlreicher Mythen von Vampiren und sonstigen grausig-dunklen Erscheinungen, andererseits ein Ort beeindruckender Schönheit. Sanfte, grüne Wiesen vor dem Hintergrund der bedrohlich-imposanten Karpaten: das ideale Setting für Jules Vernes Baron Rudolph von Gortz, der sich, kalt und doch voller Liebe für die schöne italienische Opernsängerin La Stilla, in sein unheimliches, vom Volk gemiedenes Schloß zurückgezogen hat. Die Sängerin war an seinem Anblick verstorben, jetzt reproduziert er mit den neuen (damals noch gar nicht erfundenen) Techniken Ebenbild und Gesang der Toten. Er wird seinem gerechten Ende doch nicht entgehen, denn ihr Ehemann, Franz von Telek, ebenfalls ein Siebenbürger Edelmann, kommt zufällig als Tourist (!) in diese Gegend ...

Nicht künstlich hergestelltes, sondern echtes Grauen bei Stokers blutsaugendem Vampir. Die transsylvanische Natur – wunderschöne Landschaft bei Tage, grausig-kalte Nebelfetzen bei Nacht – symbolisiert den Gegensatz zwischen dem Guten, in Gestalt einiger wackerer Engländer, und dem Bösen, in Gestalt eines seit 400 Jahren untoten rumänischen Grafen.

Anders als für Verne und Stoker, die Siebenbürgen als Kulisse brauchten, ist für die Schriftsteller Richard Wagner und Herta Müller, die aus dem Banat stammen, die Landschaft von untergeordneter Bedeutung. Ihnen geht es um die Beschreibung von rumäniendeutschen Befindlichkeiten. Das Fatale am Banat der siebziger und achtziger Jahre dieses Jahrhunderts ist, daß totalitärer Charakter des Systems und spießige Miefigkeit der Gesellschaft eine unheilige Allianz eingehen, um jegliche individuellen und kreativen Regungen zu ersticken.

Herta Müller fiktionalisiert in „Niederungen“ ihre Kindheit in einem (banat-)schwäbischen Dorf. Die dörfliche Welt ist gekennzeichnet von Brutalität, Kaltherzigkeit und harter Arbeit. Die Ich- Erzählerin, ein junges Mädchen, nimmt die Umgebung nur als Bedrohung wahr. Es gibt nicht einmal eine gute Großmutter wie die, die Andersens erforenes „Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ mit in den Himmel nimmt. Nur unerträgliches Dasein, und das ist ausweglos.

Richard Wagner, der mit Herta Müller verheiratet war und mit ihr zusammen 1987 nach Westdeutschland emigrierte, begibt sich in „Ausreiseantrag“ näher an die Gegenwart. Er beschreibt in nüchtern-lakonischer Manier, wie ihn – fiktionalisiert in der Person „Stiller“ – das sozialistisch nationale Umfeld mehr und mehr erstickt, bis das Leben zu einem motivationslosen Dahinleben degeneriert. Stiller ist ein Flaneur, der umhergeht, beobachtet, aber völlig desillusioniert, überall zeigt sich nur Trostlosigkeit. „Er hatte den Sinn der Welt auf der Straße gesucht und dabei die Gosse in den Köpfen gefunden.“ „Ausreiseantrag“ ist die Beschreibung eines menschlichen Zustands, der nur in der völligen Apathie enden kann oder in einem radikalen Bruch, wie ihn der Titel nennt. Richard Wagner ist den richtigen Weg gegangen. Martin Hager

Bram Stoker: „Dracula“. München 1992, Hanser, 25 DM

Herta Müller: „Niederungen“. Reinbek 1994, Rowohlt, 9,90 DM

Richard Wagner: „Ausreiseantrag“. Darmstadt 1988, Luchterhand. (Das Buch ist leider vergriffen, aber es gibt ja auch Bibliotheken.)

Herta Müller: „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“. Rowohlt, 1997, 240 Seiten, 39,80 Mark

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen