: Verirren in Münster
■ Das Anstaunen des Internet ist vorbei. In einem Sammelband wird das Netz als "Mythos" entlarvt. Die Rede vom World Wide Web ist auch eine sinnstiftende Erzählung über Komplexität
Nach der Party kommen die Kopfschmerzen, nach dem Rausch die Ernüchterung. Nach unzähligen Publikationen über das unentdeckte, gelobte Land des Cyberspace, nach einem bisweilen manischen Dauerlob des Internet als Panaschee all unserer politischen (Demokratie online), ökonomischen (Teleworld), persönlichen (chat-room) oder ökologischen (papierloses Büro) Probleme reicht uns nun ein Sammelband eine Hand voll Aspirin.
Das Internet, so die Leitidee der Herausgeber Stefan Münker und Alexander Roesler, entfaltet seine größte soziale Wirkung nicht auf der Ebene seiner technischen Realität, sondern als „große“ Ordnung und sinnstiftende Erzählung: „Das Internet ist vor allem ein Mythos.“ Denn dem Diskurs, den die Technik der globalen Vernetzung von Personalcomputern entfesselt hat, gelingt das Wunder der Integration der unterschiedlichsten Visionen vom neoliberalen Anhänger des friktionsfreien Kapitalismus bis zum ultrabasisdemokratischen Netzutopisten.
Von einem Mythos könne man sprechen, weil die Rede vom Internet „auf die Komplexität und Unübersichtlichkeit des Netzes mit dem Entwurf einer neuen Einheit reagiert“ und der Emergenz des vielgestalten Webs eine „Geschichte“ verpaßt. So sehr es einleuchtet, daß der mit biblischer Rhetorik gewürzten Story vom cyber trek in die neue Welt mythische Qualität zukommt, so sehr stellt sich aber auch die Frage, ob die hier unterstellte „Komplexität und Unübersichtlichkeit“ nicht selbst ein Teil dieses Mythos darstellen könnte.
Die beliebtesten Metaphern für das Internet wie Rhizom, transhierarchischer Raum ohne Zentrum, „dimensionsloser U-Topos“ oder babylonische Bibliothek setzen Komplexität zwar immer schon voraus, umgehen aber das Problem der Relation: für wen und in welcher Hinsicht ist das Internet „unübersichtlich“. Daß ein User sich zwischen den unendlichen Links der HTML- Dokumente verirren kann, spricht ja noch nicht automatisch für eine neue, sogar „hyperkomplexe“ Qualität des Internet, denn manche Leute verirren sich sogar in Münster.
Statt einfach die Komplexität des Webs an sich vorauszusetzen, um dann seinen Diskurs als Mythos zu enthüllen, hätte man anfangs vielleicht die Komplexität selbst in Frage stellen sollen. Der übliche Hinweis auf die Unendlichkeit der zur Verfügung stehenden Daten, die niemand mehr zu überblicken vermag, ist schließlich nicht gerade eine Erfindung des info-age. Daß das Leben viel zu kurz ist, um alles Wissenswerte zu wissen, wußte schon Horaz. Und wenn gelegentlich etwas wie ein chaotisches Durcheinander wirkt, könnte dies ja auch am Betrachter und seinen Erwartungen liegen.
Der gestellten Aufgabe, die Semantik des Internet als Mythos zu dekonstruieren, kommen die wenigsten Artikel nach, was dem Band aber nicht unbedingt schadet, denn abseits des Themas finden sich interessante Artikel, etwa zur „Ökonomie der Präsenz“ (William J. Mitchell), zur Geschichte der Medientechniken (Jay D. Bolter), zu den „aktiven“ Möglichkeiten des literarischen Lesens und Schreibens (Uwe Wirth), zum Internet als Kunst betrachtet (Eduardo Kac) oder zur Festungsarchitektur der vernetzten Städte (Florian Rötzer). Manche widmen sich aber dem Mythos.
Saskia Sassen hält den Visionen der proklamierten Auflösung von Raum und Zeit im Cyberspace die Materialität ihrer technischen Bedingungen entgegen. „Was ich interessant und politisch signifikant finde, aber wenig beachtet sehe, ist, daß die führenden Telekommunikationsunternehmungen, um Telekommunikationsdienstleistungen anzubieten, die Distanz neutralisieren, einen Zugang zu echtem, materiellem Land brauchen, weil die wesentliche Technologie immer noch Glasfasern sind, und die sind auch ganz materiell.“ Da Land gebraucht wird und Land immer noch Hoheitsgebiet eines Staates ist, haben die Regierungen nach wie vor rechtliche Regulierungsmöglichkeiten, deren handfeste Realität Sassen „in der wachsenden Rhetorik der Entmaterialisierung verloren“ gehen sieht. Politische Souveränität könnte also bedeuten, im Ausnahmefall die Kabel kappen lassen zu können.
„Der kurze Sommer des Netzhypes geht vorüber“, behaupten Geert Lovink und Pit Schulz. Die euphorische Phase der „E-Kultur“ skizzieren die beiden Netzaktivisten durch eine lustige Zusammenstellung von vertrauten Phrasen der Web-Werbung von der Datenautobahn durch den Cyberspace bis zum digitalen Nomaden, an denen auffällt, daß sie „Metaphern“ verwenden, die aus Bereichen stammen, die man zu kennen glaubt. Windows 95 verzaubert die Benutzeroberfläche in eine „Bürowelt“, einen desktop mit Dokumenten, Attachments und Ordnern, die „Straßenmetapher“ suggeriert die „Kolonialisierung“ einer „natürlich gewachsenen Datenlandschaft“. Diese Metaphern dienen dazu, „Selbstverständlichkeit herzustellen und den Verkauf anzuregen“. Sie lassen Unvertrautes vertraut erscheinen, obwohl es – wie Himmel oder Hölle – tatsächlich unvertraut bleibt, da niemand weiß, was der Computer tatsächlich macht, wenn wir an eine E-Mail ein Attachment hängen. Und sie funktionieren als Werbeformeln durch den Zauber der Analogie: Wer auf dem Informationssuperhighway überholen will, braucht den PentiumPro-Chip, wer nicht im Stau steckenbleiben möchte, braucht einen Ethernet- Zugang oder mindestens ISDN. „Zukunftsunternehmen“ verkaufen so genau das: Zukunft – bald, immer wieder bald, wird alles schneller und bequemer.
Noch ist aber der Hype nicht vorbei, noch gibt es selbsternannte Cyberpioniere und Pilgrim Fathers, die „einsam die Brücke überschreiten“, um die „Zurückgebliebenen mit religiösen Erfahrungsberichten zu faszinieren“, doch schon bald werde die „Langeweile“ einziehen, wenn das Netz T-Online und AOL gehört und die „Netikette“ ein „digitales Biedermeier“ entstehen lassen. Das Netz wird dann sauber und sicher sein, Schmutz und Gewalt werden vor den „Toren von Byte-City“ in Exklaven beerdigt, von denen kein Medium berichten wird. An dieser Stelle wird die „Netzkritik“ von Lovink und Schulz selbst mythisch, denn diese Erzählungen von inselartigen „Byte-Cities“ in einem Meer von Müll und Ghetto-Barbarei kennt man aus dem Cyberpunk-Genre des Science-fiction.
Ein anderer Mythos ist die Annahme, daß die dezentrale Struktur des Internets automatisch demokratisch sei. „Mit dem Internet ist eine neue Technologie entstanden, die dezentrale und damit auch demokratische Kommunikationsstrukturen fördert“, behauptet Mark Poster. Auch Eduardo Kac hegt keinen Zweifel am „festen demokratischen Glauben an Dezentralisierung und dem freien Zugang zur Information“. Was heißt dann Demokratie, wenn Dezentralität allein schon dafür ausreicht? Das BRD-Modell der gewählten Volksvertreter und Regierungen, die vier Jahre lang für alle anderen entscheiden, scheint der E-Demokratie jedenfalls nicht zu entsprechen.
Ob dagegen die im „subversiven Medium“ (Poster) des Internet ganz „dezentral“ operierenden Spinner vom White Arian Resistance Demokraten sind? Daß irgendeine Technologie per se spezifische politische Folgen hat und daß irgendein T-Online-Kunde mit dem ISDN-Anschluß auch zum mündigen Bürger wird, sind naive, jedenfalls unreflektierte Unterstellungen. Alexander Roesler hat ganz recht: „Zu den populärsten Mythen um das Internet gehört der von virtuellen Gemeinschaften und ihrer segensreichen Auswirkung auf Demokratie und Öffentlichkeit.“ Offensichtlich fällt es schwer, ihm zu entgehen. Niels Werber
„Mythos Internet“. Hrsg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. edition suhrkamp, Frankfurt/ Main 1997, 394 S., 27,80 DM
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