: Zahlenhüter kapitulieren vor Ökoinlandsprodukt
■ Statistikamt: Natur läßt sich nicht komplett in Geld umrechnen. Trotzdem Entscheidungshilfe
Berlin (taz) – Die Rechnung klingt relativ einfach: Man nehme das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller erbrachten Güter und Dienstleistungen eines Jahres, ziehe davon die Abschreibungen für den Verschleiß von Maschinen und Anlagen ab sowie die Höhe der im Jahr angefallenen Umweltschäden. Dazu addiere man die Reparaturausgaben, die den Zustand der Umwelt im selben Jahr verbesserten, und man erhält das Ökoinlandsprodukt. So steht es jedenfalls im Entwurf des Statistischen Amts der Vereinten Nationen für eine Integrierte Umweltökonomische Gesamtrechnung.
Die Rechnung wird wohl nie aufgehen. Zwar läßt sich die Höhe vieler Umweltschäden indirekt bestimmen. Wenn zum Beispiel die Emissionsmenge eines Luftschadstoffs im Laufe eines Jahres gestiegen ist, kann man errechnen, wieviel es gekostet hätte, diese Erhöhung zu vermeiden. Aber wieviel es kostet, den Verlust an Artenvielfalt zu verhindern, hat noch niemand beziffert.
„Vermeidungskosten kann ich nicht für alle Umweltprobleme ermitteln. Das wäre eine absolute Illusion“, sagt Walter Radermacher, Experte für Umweltökonomische Gesamtrechnung beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Dem Ökoinlandsprodukt gibt Radermacher keine Chance mehr: „Dieses Konzept wird sterben.“
Heutige Umweltprobleme wie Ozonloch und Treibhauseffekt lassen sich nicht in die Rechnungsperiode eines Jahres pressen, weil zwischen Verursachung und Schadenseintritt viel längere Zeitabstände liegen. Ökonomen wie Christian Leipert vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin schlagen deshalb vor, Umweltstandards für eine nachhaltige Volkswirtschaft vorzugeben und dafür modellhaft ein Ökoinlandsprodukt zu berechnen.
Was es kostet, bestimmte Umweltstandards zu erreichen, läßt sich durchaus hochrechnen. Ein Beispiel dafür ist die Reduktion des Kohlendioxidausstoßes in der Bundesrepublik um 25 Prozent bis zum Jahr 2005. Professor Bernd Meyer von der Uni Osnabrück hat in einem aufwendigen Simulationsmodell für Westdeutschland durchgespielt, wie der Zielwert mit einer ökologischen Steuerreform zwischen den Jahren 1996 und 2005 zu erreichen wäre. Das Bruttoinlandsprodukt würde etwas schwächer ansteigen, statt um 1,4 Prozent pro Jahr um 1,1 Prozent. Über die zehn Jahre hinweg ergäbe das eine Einbuße von 382,8 Milliarden Mark (inflationsbereinigt), gleichzeitig aber 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze.
Das Statistische Bundesamt berechnet derzeit die Kosten verschiedener Produktionsverfahren, die natürliche Ressourcen effizienter einsetzen. Für ein komplettes Ökoinlandsprodukt müßten jedoch die gesamtwirtschaftlichen Kosten für eine Vielzahl von Umweltstandards ermittelt werden. Das ist „weit weg von der Realität“, sagt Walter Radermacher. Da sich die ökologische Fachwelt über viele Standards nicht einig ist, kommt die Politik nicht darum herum, selbst Werte festzulegen. Selbst wenn es gelänge, die Kosten für alle Umweltstandards zu ermitteln, könnte man sie nicht einfach addieren, weil jede einzelne Maßnahme wiederum Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft hat. „Das Ganze der Volkswirtschaft“, sagt Radermacher, „ist nicht die Summe der Teile.“
Das Statistische Bundesamt konzentriert sich deshalb darauf, eine umfangreiche Sammlung von Umweltinformationen aufzubauen. Zum Energie-, Material- und Wasserverbrauch der Bundesrepublik liegen bereits detaillierte Daten vor, von der Entnahme aus der Natur bis zur Abfallhalde. Im Moment arbeiten die Fachleute in Wiesbaden an der Aufschlüsselung des Flächenverbrauchs nach einzelnen Wirtschaftsaktivitäten. Für den politischen Entscheidungsprozeß „brauchen wir das Ökoinlandsprodukt nicht“, sagt Radermacher. „Wir brauchen dazu ein breiteres Set von hochverdichteten Umweltindikatoren.“ Johannes Bernreuther
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