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Wendiger Staatsdiener

Heute beginnt in Bordeaux der Prozeß gegen Maurice Papon. Er soll die Deportation von 1.600 Juden angeordnet haben  ■ Von Dorothea Hahn

„Professioneller Wert: Charakter, schnelle Auffassungsgabe, wertvoller Beamter, sehr große Tüchtigkeit in der Verwaltung, gewissenhaft, arbeitsam. Haltung unter Vichy: positiv vom Befreiungskomitee der Gironde bewertet, hat Kontakt zur Résistance aufgenommen. Politische Orientierung: Radikalsozialist.“

Diese Eintragung findet sich 1945 in der Personalakte des 35jährigen Maurice Papon. Der „Präfekt dritter Klasse“ in der „Unterdirektion Algerien“ stand am Anfang einer brillanten Beamtenkarriere, in deren Verlauf er Gaullist werden und die ihn anderthalb Jahrzehnte später zum Polizeichef von Paris und Mitte der siebziger Jahre zum Haushaltsminister machen sollte.

Aber zu Kriegsende hatte der junge Vorzeigebeamte Papon nicht nur eine Zukunft, sondern auch bereits eine Vergangenheit. Nachdem er sich in den vergangenen 16 Jahren mit allen Mitteln der Justiz und der Politik dagegen gewehrt hat, holt sie den heute 87jährigen nun ein. Von heute an muß er sich als erster französischer Spitzenbeamter wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verantworten. Ihm wird vorgeworfen, als Generalsekretär der Präfektur der Gironde zwischen 1942 und 1944 die Deportation von rund 1.600 Bordelaiser Juden in die Vernichtungslager organisiert zu haben.

Der Angeklagte, der die letzte Nacht laut Vorschrift in einer Gefängniszelle verbringen mußte und heute mittag in die kugelsichere Glasbox vor dem Schwurgericht treten wird, hat das Pech seiner Langlebigkeit. Die drei anderen Spitzenbeamten, gegen die die Justiz in den vergangenen 15 Jahren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkiet“ ermittelte, sind rechtzeitig gestorben. Einer von ihnen, der Polizeichef von Vichy, René Bousquet, wurde 1993 an seiner Wohnungstür in Paris erschossen. So kam es, daß Bousquet, der 1940 mit dem Deutschen Oberg das Abkommen unterzeichnete, wonach die französische Polizei selbst die Verhaftung der Juden übernahm, nie vor Gericht darüber sprechen konnte.

Der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt wurden in Frankreich bislang nur der Deutsche Klaus Barbie, den seine Opfer den „Henker von Lyon“ nannten, und der Milizionär Paul Touvier, der in enger Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden die mörderische Drecksarbeit am Ende der faschistischen Hierarchie erledigte. Beide wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, Barbie 1987 in Lyon und Touvier 1994 in Versailles.

Bei Maurice Papon verhält sich die Sache schwieriger. Nicht nur wegen seiner Musterkarriere und wegen seiner einflußreichen Freunde im Establishment, sondern auch, weil an seinen Händen kein Blut klebt. Papon war ein Schreibtischtäter. Der Anwalt Serge Klarsfeld, der seit Jahrzehnten nach den Verantwortlichen der Judendeportation forscht, sagt ausdrücklich, daß alle französischen Präfekten, außer dem von Korsika, Juden festgenommen haben. Daher könnten sie alle wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt werden.

Papon hatte in Bordeaux zehn Abteilungen unter sich – darunter das „Referat für Judenfragen“. Bereits im Juli 1942, kurz nach seinem Amtsantritt, ordnete er dem Leiter des Durchgangslagers Mérignac schriftlich an, „die Juden Goldenberg, Braun, Librach nach Drancy transportieren“. Das nördlich von Paris gelegene Sammellager Drancy war für die 72.000 aus Frankreich deportierten Juden das Vorzimmer für Auschwitz.

Papon, der nicht bestreitet, die Festnahme von Juden befohlen zu haben, will Schlimmeres verhindert haben. „Ich habe Decken und Getränke“ für die Transporte organisiert, um „das Leiden zu lindern“, macht er geltend. Zudem sicherte sich Papon in alle Richtungen politisch ab. Bevor er Befehle der deutschen Besatzer ausführte, holte er sich grundsätzlich die Autorisierung der Behörden von Vichy ein. Außerdem knüpfte er Kontakte zur Résistance.

Die Vernetzung sicherte Papon nicht nur einen nahtlosen Übergang in das Nachkriegsfrankreich, sondern verhalf ihm Ende der 50er Jahre, als er die Polizeipräfektur von Paris anstrebte, sogar zu einem späten Persilschein als Résistant. Noch im Mai 1981, als die Pariser Wochenzeitung Le Canard Enchaené Papons Rolle in Bordeaux enthüllte, waren die alten Kontakte nützlich: Ein „Ehrenkomitee“ aus Historikern, Ex-Résistants und Anwälten bescheinigte dem Nochminister einen gewissen Anstand unter Vichy, auch wenn er „1942 besser daran getan hätte, zurückzutreten“.

Ins Rollen gebracht hat die Affäre Michel Slitinsky. Am 19. Oktober 1944 war der damals 19jähriger in einer Flucht über die Dächer der Bordelaiser Polizei entkommen. Sein Vater überlebte die Deportation nicht. 1981 stieß Slitinsky in Archiven auf Dokumente, die dank der gewissenhaften Beamtentätigkeit von Papon eindeutig waren. Zu einer sofortigen Anklageerhebung, wie sie 1981 Menschenrechtler in Frankreich verlangten, kam es trotzdem nicht.

16 Jahre lang klagte Papon gegen jeden, der es wagte, ihn wegen seiner Rolle in Vichy anzufechten. Vor wenigen Monaten noch gewann er Verleumdungsklagen. Und selbst in diesen Tagen bewies er die Unterstützung einflußreicher Intellektueller, Politiker und Anwälte. So warnte der Parteichef der neogaullistischen RPR, Philippe Séguin, am Wochenende persönlich vor einem „gefährlichen Neorevisionismus“ der französischen Geschichte.

Doch die große Mehrheit will heute diesen voraussichtlich letzten Prozeß gegen eine hohen Staatsdiener wegen Vichy. Über ein halbes Jahrhundert danach ist eine regelrechte Bekennerwut in Frankreich ausgebrochen. Nach Staatspräsident Jacques Chirac und nach der Spitze der katholischen Kirche hat sich am Montag auch die größte Polizeigewerkschaft eingereiht, die sich für ihre Komplizenschaft bei den Juden entschuldigte.

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