Vichy wollte es, Frankreich wußte es

Beim Prozeß gegen den Kollaborateur Maurice Papon hoffen die Opfer der Deportationen und ihre Angehörigen auf späte Gerechtigkeit. Der 87jährige Angeklagte ist seit gestern haftunfähig und auf freiem Fuß  ■ Aus Bordeaux Dorothea Hahn

Sie ist Pariserin. Ihre Familienangehörigen sind deportiert worden. Sie war ein Kind. Man hat sie versteckt. Außerhalb der besetzten Stadt.

Zum Beginn des Prozesses gegen Maurice Papon ist die ins Rentenalter gekommene zarte Blondine nach Bordeaux gereist. Sie wollte den einstigen Generalsekretär der Präfektur der Gironde, Maurice Papon, erleben, wie er sich für die Verhaftung und Deportation von 1.560 Juden rechtfertigte. Nun steht sie am Eisengitter vor dem klassizistischen Gerichtsgebäude und kommt nicht herein, weil in dem Verhandlungssaal kein Platz für sie ist. Auf einen späteren Termin, wenn das große Publikumsinteresse abgeflaut ist, kann sie nicht warten. „Ich fahre nach Israel“, erklärt sie den beiden anderen Damen, die sie in der Warteschlange kennengelernt hat. Als sie erfährt, daß die Journalistin, die ihr mit einem Block in der Hand gegenübersteht, Deutsche ist, weicht sie mehrere Schritt zurück.

Die Nachbarn haben einfach nur zugeguckt

Er ist höchstens 20 Jahre alt. Er trägt eine Kipa und ein weißes, vorn mit einem Davidstern bedrucktes T-Shirt, auf dem hinten die Aufschrift steht: „Vichy wollte es, Frankreich wußte es, Papon unterzeichnete es.“ Er will diskutieren. Seine Großeltern sind aus Bordeaux deportiert worden. Jetzt ruft er in die Menschentraube um ihn herum: „Die Nachbarn haben zugeguckt, wie die Polizisten sie abgeführt haben. Zu-ge-guckt“, wiederholt der Enkel.

Der weißhaarige alte Mann war Kommunist und hat nacheinander das Bordeleser Gefängnis Ha und die Baracke für die „Politischen“ im Durchgangslager MérignÛc von innen kennengelernt. Er erinnert daran, daß „viele es einfach nicht wahrhaben wollten“ und daß „auch andere“ deportiert wurden. Hinter ihm steht in der Menschentraube eine alte Frau. „Aber die meisten Opfer waren doch Israeliten“, murmelt sie. Jenseits der Gerichtsgitter läuft das allererste Verfahren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gegen einen hohen französischen Staatsdiener. Seit es am Mittwoch begonnen hat, sprechen manche französische Opfer des Holocaust in ihren Familien zum ersten Mal über ihre Deportation. Doch im Gerichtssaal selbst hat das eigentliche Verfahren noch gar nicht begonnen. Bis gestern mittag war nicht einmal die sieben Stunden lange Anklageschrift verlesen. Statt dessen müssen die Richter und Geschworenen über die Verzögerungsmanöver der Verteidigung beraten. Sie will ihren Mandanten für die dreimonatige Verfahrensdauer in Freiheit wissen. Ein Hotelzimmer in einer Luxusresidenz im grünen Umland von Bordeaux ist schon reserviert. Die Argumente sind das Alter und die angeschlagene Gesundheit des Angeklagten und die „unmenschlichen Zustände“ im Gefängnis Gradignan, wo allnächtlich die Rufe „Tod für Papon“ aus den Nachbarzellen des Angeklagten gellen.

Der Hauptverteidiger Jean- Marc Varaut, ein stämmiger Mann mit ausufernder theatralischer Gestik, läßt sich am zweiten Verhandlungstag von drei Bodyguards begleiten. Er habe Drohungen bekommen, teilt er dem Gericht mit, bevor er zu einer seiner langen und brillanten Attacken auf das ungerechte Verfahren gegen „Monsieur le Ministre“, wie er seinen Mandanten nennt, ausholt. Hinter ihm hat sich der 87jährige Papon auf der Angeklagtenbank wie in seinem Büro eingerichtet. Während der Verhandlungen macht der hagere alte Mann Notizen und läßt gelegentlich seinen prüfenden Blick über den Saal streifen. Als wäre er nicht der Angeklagte, sondern immer noch der französische Haushaltsminister der späten 70er Jahre, der anschließend seinem Präsidenten berichten muß.

Zu den Opfern gehörten auch Alte und Babies

Gestern mittag kann Papon seinen ersten Sieg vor dem Schwurgericht verbuchen. Nachdem zwei unabhängige Ärzte ihn für schwer herzkrank befunden und einen Gefängnisaufenthalt als gesundheitsschädlich bezeichnet haben und nachdem er in der Vornacht wegen eines Unwohlseins aus seiner Zelle in ein Krankenhaus gebracht worden war, darf er das Gericht als freier Mann verlassen. Selbst wenn das Schwurgericht ihn im Dezember zu der Höchststrafe „lebenslänglich“ verurteilen sollte, wird Papon noch bis zu seinem Berufungsverfahren auf freiem Fuß bleiben. Bei den Opfern Papons stößt die Entscheidung auf wenig Verständnis. Der Rabbiner von Bordeaux, Claude Maman, der persönlich Papons „exzellente Form“ am ersten Verhandlungstag erlebte, hatte anschließend draußen vor dem Gerichtsgitter an jene erinnert, die 1944 gefangen waren und auch nicht schlafen konnten. „Das waren Alte und Babies. Und es war eiskalt im Lager“, sagt der Rabbiner.