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Rosa Welt klarer Ursachen

■ „Visionen menschlicher Zukunft“: Der Kongreß vermengt Sinn und Unsinn

Schade. Der Engelorgonakkumulator, Stein des Anstoßes im Vorfeld der Messe, war leider nicht aufzufinden. Wahrscheinlich sitzt er auf einer Wolke und spielt Harfe. Auf der Erde doch nur wieder der ganz normale Wahnsinn, zum Beispiel Naturhornbrillengestelle für 1000 Mark aufwärts, wunderschön – aber meine Apollobrille für 139 Mark ist schöner. Das Prädikat „naturbelassen“ist längst Teil einer naturentfremdenden Marktwirtschaft. Es ist eben kein wahres Leben im falschen ... aber lassen wir das. Reichlich bedient die Messe die menschliche Vorliebe für Fetische jeder Art. Salben geben alle möglichen Versprechungen ab – und erfüllen sie totsicher ebenso wie Mutters Faltencreme. Parfüms wollen Lebensfreude spenden. Aber das sind wir schließlich gewohnt von Chanel, Obsession, Jil Sander. Amulette möchten uns stark machen. Ziemlich dämlich – aber auch nicht mehr als manche Männer, die davon überzeugt sind, daß schicke Hermés-Krawatten und Armani-Brillen zum Führen von Unternehmen qualifizieren.

Die Welt ist vernünftig, die Esoterik unvernünftig: kein besonders fruchtbarer Ansatz also. Viel spannender, vielleicht sogar spirituell erleuchtend ist es, in der Esoterik die irrationalen Tendenzen unserer ganz normalen gesellschaftlichen Ordnung widergespiegelt zu sehen. Schließlich ist all jenes herrschende Nichtfunktionieren auch das schlagkräftigste Argument der Esoteriker.

Zum Beispiel Heiko Lassek, einer der vielen Reichianer des Kongresses. Der hat in der Tat gute Argumente gegen die westliche Medizin. Es sind die einschlägigen: daß bei westlichen Arzneien oft die Nebenwirkungen die Wirkung überschreiten; daß alle naturwissenschaftlichen Theorien – etwa über die Ursachen von Magengeschwüren oder Herzinfarkten – alle zehn Jahre total über den Haufen geworfen werden müssen; daß die Wirkungsmechanismen der meisten westlichen Medikamente unklar sind, und deshalb der Erklärungsnotstand um keinen Minideut kleiner ist als bei den Naturheilern.

Aus dieser Welt der Ungereimtheiten und Widersprüche löst er sich mit einem Befreiungsschlag. Alles ist einfach, der Mensch ist eine Kugel, die besteht aus drei Schichten, etwa so wie eine Rochè-Praline, nur leider nicht so süß. Die äußere körperliche Schicht, im Pralinenmodell der Schokoguß mit den Nußsplittern, wird zerfressen von Krebs, verwüstet von Bluthochdruck, vergiftet von Rheuma, geschunden, malträtiert, geknechtet. Und warum das alles? Einzig deshalb, weil der Kern, im Pralinenmodell die Haßelnuß, nicht locker fröhlich frei vor sich hinströmen kann. Eine verklemmte Nuß ist also die Ursache von allem Unbill, Streß, Hautkrankheit, Krebs, Weltkrieg, Atombombe.

Zwei Dinge verblüffen hier, die sich durch fast alle Vorträge und Kurse des Kongresses ziehen: Die Ursache aller körperlichen Gebrechen und seelischen Mißmutigkeiten ist bei allen „Referenten“emotionale Feigheit. Doch keiner will das Problem lösen auf der Ebene, wo es stattfindet, keiner rät uns: schmeiß den Job, der Dich nervt, kündige die Ehe, verkompostiere Deine Kinder, lynche die Schwiegermutter, wähle Kohl ab. Stattdessen wird gerubbelt, geschnauft, geturnt, gequieckt. Eine klassische Form von Symptombehandlung, also genau das, was man eigentlich nicht wollte.

Noch spannender sind die Erklärungsmodelle. Heilpraktiker sagen: die westliche Medizin denkt mechanistisch-kausal, wir denken ganzheitlich-komplex. In Wahrheit argumentieren alle Heiler streng kausal, und zwar mit einer Simplizität, die entwaffnend ist. „Da hatte ich einen Angstpatienten; der hatte Angst, weil er im Alter von eineinhalb Jahren beinahe ertrunken wäre. Ich suchte nach dem Schlüssel; den Schlüssel, wo die verklemmten Energieströme zu lösen wären; ich suchte im Bauch, ich suchte in der Brust. Dann begriff ich: die Nase. Ist doch klar“, Gerda Boyesen knetet zärtlich-bohrend ihre Nasenflügel „er wäre beinahe erstickt – es ist die Nase.“Wo alle Absolventen der westlichen Wissenschaftsmaschinerie längst hyperkomplex und vernetzt denken, da stricken ausgerechnet die Esoteriker weiter an ihrer schönen rosa Welt der klaren Ursachen, Wirkungen und Lösungen – und mosern über kausales Denken. Sie können es sich am wenigsten leisten. Die westliche Wissenschaft denkt oft kurz, die Esoterik noch viel kürzer.

Längst kommt es zu seltsamsten, gefährlichen Liaisons zwischen Esoterik und Wissenschaft. Richtig rührend Ernest Rossi. Ein paar Wochen vor dem Kongreß haben ihm irgendwelche Medizinstudies erzählt, daß sich die Gehirnzellen alle zwei Wochen erneuern und daß das Hirn alle 90 Minuten die psychischen Erfahrungen in Eiweißstoffe übersetzt. Egal ob das nun stimmt oder nicht jedenfalls nimmt Rossi nicht die harte Arbeit der Genauigkeit auf sich, studiert die Sache nicht gründlich, begnügt sich mit schwachbrüstigen Evidenzbeweisen: Das mit den 90 Minuten stimme, das könne jeder von uns „nachprüfen“, „aus eigener Erfahrung“, weil schließlich sind Hollywoodfilme 90 Minuten lang und wir brauchen alle 90 Minuten eine Pause. Da hat er recht. Oder? Nein, natürlich hat er nicht recht. Allzuschnell läßt man sich Evidenzen aufquasseln. Eine katholische Messe hilft uns hier weiter. Sie dauert nur 50 Minuten und die Menschen praktizieren völlig individuelle Pausenrhythmen, kaum aber in 90 Minuten-Intervallen.

Mit seinem gerade frisch renovierten Weltbild beglückt Rossi sein Publikum mit entsprechend neuartiger „Hypnose“. Wir breiten die Hände aus, die einen bescheiden eng, die anderen machtlüstern weit, verspüren nach zehn Minuten mysteriöse Ansätze eines Muskelkaters, die wir flugs umdefinieren zu Manifestationen geheimnisvoller Kraftströme und begreifen wie durch ein Wunder, daß wir ein Lebtag falsch, da jenseits des hochwissenschaftlichen 90-Minuten-Rhythmus, gearbeitet haben, – spüren dieses Defizit, nachdem uns Rossi mit sanftem Nachdruck gefragt hat, ob wir das jetzt nicht ganz tief spüren.

Aber warum muß ICH das spüren? Mein Arbeitgeber muß das spüren, daß ich viele, schöne lange Pausen brauche, sonst ist alles umsonst. Am Ende von ausufernden neurobiologischem Quäken stehen Trivialitäten. Nur, wer setzt sie um in politische Wirklichkeit? Wenige Antworten auch auf diesem Kongreß. bk

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