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Bürgerliche Instandbesetzung

Das Hamburger Rathaus wird am nächsten Wochenende 100 Jahre alt. Eine Laudatio nicht verkneifen konnte sich  ■ Hans J. Kleinsteuber

Seit einhundert Jahren trifft sich der Hamburger Senat in der Ratsstube „unter freiem Himmel“. Ein über mehrere Etagen laufender Lichtschacht sorgt dafür, daß die Senatoren nichts über sich sehen als die Götter. Eine romantische Anspielung auf den altgermanischen Thing.

Dies ist nicht die einzige rückwärtsgewandte Symbolik in unserem Rathaus. In der Eröffnungsschrift von 1897 heißt es: „Der Sitz der beiden Bürgermeister ist durch einen Baldachin ausgezeichnet, dessen reiche Stickereien auf Sammet das Prachtgeschenk Hamburgischer Frauen und Jungfrauen bildet.“Die freilich waren damals von jeder Politik ausgeschlossen. Baldachin meint eigentlich die Prunkdecke, die sich über Altar, Thron und Kanzel spannt. Unter so einem samtbehangenen Holzbaldachin sitzt heute noch unser Bürgermeister, wenn er die Stadt regiert.

Zwei Hellebardiere mit wallenden Vollbärten hielten die Ehrenwache. Von den Türmen der vier Hauptkirchen erklangen feierliche Choräle, und die Kapelle des hanseatischen Infanterieregiments Nr. 76 intonisierte „Lieb Vaterland magst ruhig sein.“So wurde am 26. Oktober 1897 das Hamburger Rathaus eröffnet. Seitdem hat sich in Hamburg und rund ums Rathaus durch Krieg und Abriß fast alles geändert. Das Gebäude wirkt dagegen wie ein Bollwerk, in dem die Vergangenheit tapfer verteidigt wird. Und die besteht vor allem aus der bombastischen Symbolsprache der imperialistisch-kaiserlichen Epoche, heruntergebrochen auf die Insignien einer selbstbewußten freien Reichsstadt.

In der Einweihungsschrift hieß es: „In der Mitte der Vorderfronte erhebt sich der 112 m hohe Hauptthurm, jenes althergebrachte Sinnbild städtischer Macht und Selbständigkeit.“Im „Saal der Republiken“stellt sich die Stadt in eine Reihe mit Athen, Rom, Venedig und Amsterdam. Das alles wirkt wie eine Mischung aus Staats-Kunst und Polit-Kitsch. Es hat seinen Reiz, dennoch: Inzwischen leben wir in einer Zivilgesellschaft.

as Rathaus ist ein Dokument des Historismus. Sein Architekt Martin Haller bildete darin vaterstädtische Gesinnung und Selbstbewußtsein gegenüber dem Reich ab. Als Sohn eines Bürgermeisters und zeitweise selbst Mitglied der Bürgerschaft verkehrte er in besten Kreisen. Viele Hamburger Bankpaläste stammen von ihm. Sicher war er kein Demokrat. Erst nach Krieg, Revolution und Einführung der parlamentarischen Demokratie wurde in Hamburg anders, nüchterner gebaut.

Fritz Schumacher prägte mit Backstein und sozialdemokratischer Schlichtheit das Erscheinungsbild des 20. Jahrhunderts. Im Verhältnis dazu mußte das Rathaus wie ein Fremdkörper wirken. So waren sich unsere Stadtgewaltigen uneinig, ob dieses Rathaus eher in die Reihe historisierender Verirrungen gestellt oder als Schmuckstück gepflegt werden sollte. Als ich 1975 nach Hamburg kam, wirkte es eingegraut, wie ein riesenhaft düsterer Kasten an einem ungestalten Vorplatz, der vom Verkehr genutzt wurde. Erst nach dem Umbau des Marktes, beendet 1982, begannen unsere Bürgermeister damit, ihr Gehäuse wieder herauszuputzen.

Ob das Rathaus eine Schönheit ist, mag jeder für sich entscheiden. Im Zentrum dieser weitgehend gesichtslosen, von Krieg und Spekulation gebeutelten Innenstadt präsentiert es sich fraglos als architektonischer Leckerbissen. In einer Stadt, in der die Logik von Kontorgebäuden und Quadratmeter-Mieten herrscht, wirkt es wie deren konsequente Verleugnung. Eigentlich ist unser Rathaus ein schillernder Paradiesvogel – vor allem innen. Stolz vermeldet die Tourismus-Zentrale, daß es über 647 Räume verfüge – sechs mehr als der Buckingham-Palast.

ber da ist eine politische Erblast. In seiner trutzig-verschlossenen Quader-Architektur versinnbildlicht dieses Gebäude die hanseatische Variante des Obrigkeitsstaates. Errichtet von einer Oligarchie wohlhabender Handelsfamilien, diente seine reiche Ikonographie vorrangig der Selbsterhöhung einer anti-demokratisch gesonnenen Klasse von Senatoren. Die damals gültige Verfassung von 1879 forderte, daß die Senatorenschaft zur Hälfte aus Juristen (“Rechts- und Kameralwissenschaften“) bestehe, die andere ganz überwiegend dem „Kaufmannsstande“entstammen müsse. Diese auf Lebenszeit berufenen Senatoren waren als Kollegium seinerzeit nahezu allmächtig. Mit dem Bürgermeister in ihrer Mitte konstituierten sie das Machtzentrum der Stadt. Sie leiteten nicht nur (wie heute) die Verwaltung, sondern verfügten gemeinsam mit der schwachen Bürgerschaft (die zudem nicht demokratisch gewählt war) auch über umfängliche legislative und judikative Rechte (deshalb stehen die Skulpturen Gnade und Gerechtigkeit heute noch im Eingangsbereich des Senats).

Rundherum atmet dieses Rathaus vergangenen Odem. Einem eher bescheidenen Bürgerschaftstrakt linker Hand steht rechts ein prächtiger Senatsflügel gegenüber, beide verbindet eine Flucht von Festsälen. Zum Senat führt eine schloßähnliche Treppe, flankiert vom Stärkesymbol „Löwe“und garniert mit den Engrammen S.P.Q.H. (Senatus Populusque Hamburgiensis). Offensichtlich fühlte man sich den Senatoren des alten Rom nahe. Das „Senatsgehege“, übernommen aus dem mittelalterlichen Rathaus, wird seitdem mit einem prunkvollen schmiedeeisernen Gittertor verschlossen. Es ist längst überfällig, dieses Gitter (mitsamt seinem roten Teppich) nicht nur für Staatsgäste, sondern auch dem Normalbürger zu öffnen. Das gegenüberliegende, deutlich schlichtere Tor zur Bürgerschaft lädt schließlich auch zum Durchgehen ein.

m Ort mit dem besten Ausblick über die Binnenalster residiert der Regierungs-chef im Bürgermeisteramtszimmer mit Marmorkamin und Mahagonivertäfelung inmitten „repräsentativ reputierlicher Gemütlichkeit“(wie es in Ex-Senator Joist Grolles Edel-Bildband heißt). Mag er nicht hinausblicken, zieht er sich für den „feierlichen Smalltalk“in einen Erker mit eingemalten Bürgermeisterporträts (wie sie auch sonst reichlich zu finden sind) zurück. Nach Kriegszerstörungen wurde alles aufwendig rekonstruiert. Der Bürger vermag bei Führungen (vielleicht) einen Blick darauf zu werfen.

Faszinierend sind die Festsäle des Rathauses. Selten sind sie festlich belebt. Wenn, dann vor allem, wenn der Bürgermeister einlädt, etwa zum feierlichen Dinner bittet. Der große Saal zum Markt hin heißt „Kaisersaal“. Der Name erinnert auch an den ersten großen Gast darin, Kaiser Wilhelm II., der zur Eröffnung seines „Kaiser-Wilhelm-Kanals“angereist war. Letzterer heißt schließlich seit 1948 auch ganz republikanisch Nord-Ostsee-Kanal. Im immer noch so genannten Kaisersaal verschwand 1918 lediglich das Bildnis Wilhelm II. (er hatte es selbst spendiert, entsprechend ungelitten war es). Unter riesigen Deckengemälden (“Triumph der deutschen Flagge“) hängen gewaltige Kronleuchter (elektrisches Licht war damals der letzte Schrei) und beleuchten „allegorische Kleinplastiken“, in denen „maritime Fabelwesen gleichsam aufleuchten“(so der Kunsthistoriker Hermann Hipp).

Den großen Festsaal (für 1000 Gäste) schmücken gigantische Wandbilder über die Geschichte der Hansestadt. Ein wenig wie historische Comics wirkend, erzählen sie ihre eigenen, etwas krausen Geschichten. Vom Missionsbischof etwa, der den alten Hammaburgern das Christentum bringen soll, allerdings auf (Senats-)Weisung nach unten ins Leere segnen muß. Das größte Bild wurde umgemalt, die Hamburger Heiden stehend dargestellt. Ein Hamburger kniet vor niemandem. In diesem Festsaal, auf der Senats-Estrade, stehen majestätisch erhöhte, wundervoll geschnitzte Senatssitze, dem Dogenpalast in Venedig nachempfunden. Man könnte seitenweise weiter schwärmen von diesen Kulissen, bestens für eine Wagner-Inszenierung geeignet. Nutzt der Senat die Säle für seine Festveranstaltungen, so wird das wappenverzierte Tafelsilber der Stadt herausgeholt und festlich dinniert (dieses Tafelsilber gibt es noch in der verarmten Stadt). Wie man überhaupt den Eindruck erhält, daß hinter den großen Türen gefeiert würde, als könne die Stadt noch immer aus dem vollen schöpfen. Übrigens war auch die Renovierung nicht billig, bisher verschlang sie 77 Millionen Mark.

rauen im Rathaus? Die kommen in der Inszenierung von 1897 nur mythologisch vor: So allerdings reichlich, gilt doch die Stadtgöttin Hammonia als Hausherrin. Andere Schutzgöttinnen locken den Beobachter mit viel wohlgerundeter Nacktheit. Bei den Einweihungsfeiern wurden selbst die Gattinnen der Senatoren auf die Empore verbannt. Von den zahlreichen Ölporträts schauen bis heute nur Männer. Nun will der Landesfrauenrat an die Frauen in der Politik erinnern. Zum Hundertjährigen sollen die bisher 14 Senatorinnen Hamburgs auch im Rathaus die verdiente Achtung finden. Viel Geld stand nicht zur Verfügung, so reicht es gerade für das Aufhängen von Bleistift-Zeichnungen. Gegen all die Männer in Öl werden sie es schwer haben, zumal die besten Plätze längst vergeben sind. Um so erstaunlicher, daß nun noch über den Ort einer angemessenen Präsentation gestritten werden muß.

ine versunkene Welt? Die Fürstenschlösser von damals sind heute meist Museen. Die Räumlichkeiten des Hamburger Rathauses werden dagegen fast wie vor hundert Jahren genutzt – auch wenn die Senatoren die ihnen zugedachten Dogensitze demonstrativ meiden. Sicher, inzwischen finden Führungen durch das Rathaus statt, und es gibt einen „Tag der offenen Tür“. Dennoch bleibt manches schwer zugänglich, vor allem im Senatstrakt. Aber haben Bürger nicht Anspruch darauf, Hamburgs teuerste Gemächer, zudem aus Steuergeldern unterhalten, für sich erschließen zu können?

Der moderne Bürgerstaat sollte keine Gehege mehr kennen. Dieser Ort im Stile des ausgehenden 19. Jahrhunderts eignet sich nicht für ein demokratisches Gemeinwesen an der Wende zum neuen Jahrtausend. Die Gefahr besteht, daß in Museen auch museale Politik gemacht wird. Demokratie besteht bekanntlich darin, daß sie stellvertretend für den Bürger gemacht wird. Über dem Senatorenkollegium thront heute nicht mehr Gott, sondern das Hamburger Staatsvolk. So besehen, muß dieses Rathaus von der bürgerlichen Revolution erst noch erobert werden.

Es ist schon bedrückend, daß nicht einmal zum 100jährigen Geburtstag der Bürger ohne Führer durch sein Rathaus wandeln kann. Angebote in diese Richtung aus der Universität wurden von den Rathaus-Residenten abgelehnt.

ein Vorschlag, zugegeben ein wenig despektierlich: Die prächtigen Fluchten des Rathauses werden umfunktioniert zum öffentlichen Raum. Architektonischer Witz und Irrwitz hinter den dicken Mauern werden konsequent den Hamburgern erschlossen. Eine ironisierende Führung, ohne staatstragende Momente durch einen festländischen He Lücht wäre nur der Beginn. Auf den riesigen Austritten zum Rathausplatz, wo jetzt biedere Geranien leuchten, zieht ein Café ein. Dann können alle Bürger die Aussicht genießen, von der schon Helmut Schmidt schwärmte. Sein Blick richtete sich beglückt „auf den Rathausmarkt und die Kleine Alster an der Schmalseite, mit den Alsterarkaden im Hintergrund und dem schlichten Ehrenmal davor“. Als Mitglied der politischen Klasse und Dauergast im Rathaus weiß er um dessen Schönheit. Der Blick gehört demokratisiert.

Die Säle werden für Gesellschaften aller Art geöffnet, unter den Baldachinen sitzen fortan frisch gebackene Eheleute. Vom Balkon des Turmsaals grüßen Silberhochzeits-Jubilare zwischen den Kaiserstatuen ihre Familie. Keine Frage, für diesen Publikums-Magneten mitten in der Metropole könnte man eine Menge Eintritt nehmen. Catering in den ehemals heiligen Hallen wäre garantiert ein Erfolg: Erlebnisgastronomie der historisierenden Art. Da könnte die darbende Stadt gutes Geld verdienen. Das Rathaus ist die letzte, noch unentdeckte, wertvolle Immobilie mitten in Hamburg. Kommt hoher Staatsbesuch in die Stadt, etwa die britische Königin, dann kann immer noch abgesperrt werden. Aber die kommt bekanntlich selten.

Dieses Rathaus ist eine einmalige Attraktion. Der Steuerzahler hat die gesamte Renovierung berappt. Nun soll er auf die Einladung des Bürgermeisters warten, um herein zu dürfen? All der Zierrat lenkt nur vom Regieren ab, während er den Bürger mit hansestädtischem Stolz erfüllen wird. Das Gebäude des Berliner Reichstags wird gerade symbolisch demokratisiert. Die Bundestags-Abgeordneten werden zukünftig unter einer riesigen Kuppel tagen, welche die Bürger begehen können. Deren Blick richtet sich dann – je nach Neigung – schweifend über Berlins Skyline oder herab auf die Finger ihrer Politiker. In Hamburg scheint der Senat noch immer auf göttliche Eingebung per Lichtschacht zu warten. Diese Trutzburg der Vergangenheit gilt es bürgerlich instandzubesetzen.

Der Autor ist Politik-Professor an der Universität Hamburg

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