■ Vorschlag
: Herr Scott und Frau B am Hall. Ufer

Aus „Virus“ von Randall Scott Foto: Thomas Aurin

Man müßte ein Anatomiebuch aufschlagen und Knochen, Gelenke und Muskeln zählen. Vielleicht käme man dann nach der Multiplikation der Summe mit sich selbst auf eine annäherende Zahl für die Möglichkeiten, sich in Wellen, Spiralen und verwegenen Kurven fortzubewegen. Hand, Ellbogen, Schulter, Nacken, Schädeldecke, Kinn, Brustbein, Hüfte, Knie, Zehen: Sie alle wechseln sich in den Tänzen von Alex B und Randall Scott als Zugkräfte ab, die die Kette der Glieder in einem Sog verzwirbeln, bis das nächste Element die Führung übernimmt. Ein Fuß zieht hoch, der Oberkörper taucht, dreht sich, folgt der Spur, die das Bein in einer Spirale um die Hüfte beschrieben hat. Wenn die Tänzer von Scotts Company zu zweit oder fünft agieren, dann scheint ein unsichtbares Geflecht dehnbarer Bänder ihre Körper zu verbinden. Nichts bewegt sich in diesem Raum ohne Beziehung zu den anderen.

Das ist in der Choreographie „Flesh and Blood“, die Alex B das erste Mal an der Akademie der Künste zeigte und jetzt mit der niederländischen Gruppe überarbeitet hat, nicht anders als in dem Solo „Two Faces“ und dem Ensemblestück „Virus“ von Randall Scott. Einzig der Titel des Abends, „Creation 97“, klingt nach dem letzten Schrei, sonst gibt es nichts Aufgesetztes. Sparsam wie die nur über kurze Strecken begleitenden Fragmente verschiedener Instrumentalmusiken ist auch die Bühne: Hinter den Gerüsten für die Scheinwerfer können die Tänzer in den Schatten treten, ohne daß der Funke ihrer Anwesenheit erlischt. In diesem glasklaren Rahmen folgt man den verzweigten und versponnenen Linien, die durch den Raum gezogen werden, wie der Spitze einer Feder, die verschwenderisch Arabesken und Ornamente auf das Papier zeichnet.

Über den Boden wischen, hochzischen, schmelzen, niederrutschen mehr denn fallen, Sprünge, die weich gefangen werden, die Hand am Nacken des Partners: Das alles wird zu einem Wiegen, dem die Augen wie einem Vogelschwarm folgen. Irgendwann träumt man ein bißchen vor sich hin, seufzt vielleicht und läßt sich von sanften Wellen weitertragen und trösten. Katrin Bettina Müller

„Creation 97“, bis 20.10., 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer (32)