Hinten Dorf, vorn Potsdamer Platz

Zehn Jahre IBA: Während die Idylle in den meisten Wohnquartieren wohl nicht gestört wird, ist es in anderen IBA-Dörfern mit der Ruhe vorbei. Dort lärmt die Großstadt  ■ Von Rolf Lautenschläger

Nachts gehören die Wohnanlagen am Berlin Museum der Stille. Die Straßen zwischen der Lindenstraße und der Alten Jakobstraße sind leergefegt. Über die begrünten Innenhöfe des „Wohnparks am Berlin Museum“ legt sich herbstlicher Dunst, der vom diffusen Licht aus den Wohnungen ein wenig erhellt wird. Kein Laut nirgends. Nur eine Katze schleicht entlang der ebenerdigen Terrassen, auf denen die Gartenstühle zusammengeschoben sind. Es ist wie auf dem Dorf, fehlt nur, daß ein Hahn zur Nachtruhe kräht.

Für Frieder Kern bedeutet die vorstädtische Idylle, nur einen Steinwurf entfernt von der Leipziger Straße und der Einkaufsmeile Friedrichstraße, „eine ideale Art, mitten in der Stadt zu wohnen“. Von der verkehrsberuhigten Straße vor seiner Wohnung im zweiten Obergeschoß des backsteineren IBA-Blocks dringe selbst tagsüber „so gut wie kein Lärm in die Hütte“. Die großen Innenhöfe sowie der Park gegenüber dem fast fertigen Libeskind-Bau für das Jüdische Museum mit bequemen Bänken, Bäumen und Spielplätzen böten reichlich Raum, sich im Sommer zu entspannen.

Außerdem könnten die Kids dort spielen, „ohne daß man ständig das Gefühl hat, nach denen Ausschau halten zu müssen.“ Das „Kleinstädtische“, sagt Kern, „finde ich zum Wohnen angenehm“. Dafür nehme er die fehlenden städtischen Struktureinrichtungen, nämlich Läden, Restaurants oder Kulturinstitutionen, gern in Kauf.

Der Hauch des Provinziellen und Vorstädtischen, das den IBA- Bauten in der südlichen Friedrichstadt anhaftet, war im „Wohnpark am Berlin Museum“ – dem ersten und größten zusammenhängenden IBA-Projekt – nicht von Beginn an angelegt. Der städtebauliche Entwurf von Hans Kollhoff und Arthur Ovaska sah nicht nur eine größere Dichte und weniger Grünflächen vor. Vielmehr legten die Architekten mehr Wert auf „städtisches Wohnen“ mit geschlossenen Blocks, großmaßstäblicheren Architekturen mit neuartigen Grundrissen sowie weniger Grün in den Innenbereichen.

Die Planung geriet zum Streit zwischen den IBA-Planern einerseits sowie Kommunalpolitikern und Bürgern andererseits, deren „Vorstellungen von der vorstädtischen Haltung und Nutzungsdichte sich schließlich durchsetzte“, wie sich IBA-Planer Hildebrand Machleidt erinnert. Heraus kamen nach der Überarbeitung die „Herabsenkung der Geschoßflächen zugunsten des Wohnhofs“ und kleinteilig gegliederte Bauformen aus Zeilen, zwei- bis dreistöckigen Flügeln und den Gartenhäusern, die als „anheimelnder“ empfunden wurden: Schließlich lebte man nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie – nahe der Mauer.

Daß die kleinteilige städtebauliche Planung mit ihren Vorzügen im Stadtraum im Innern an Grenzen stößt, sieht auch Kern. Für die 80 Quadratmeter kleine Dreizimmerwohnung in der IBA-Anlage haben er und seine Frau beim Einzug in den 80er Jahren zwar schlappe 650 Mark netto bezahlt. Hinzu kam allerdings ein „Mieterdarlehen“ von 9.500 Mark, das der Senat per Gesetz für einen Teil der 300 Sozialwohnungen vor Ort erhob. Mit dem Investitionsanteil sollten weitere Bauten des „IBA- Modells“ finanziert werden. Die Summe hat Kern damals geärgert, gezahlt wurde sie von ihm dennoch, „weil wir eine neue Wohnung brauchten, die auf den ersten Blick ganz andere Möglichkeiten bot als unsere alte in Schöneberg“.

Die Wohnung mit drei Zimmern, Küche, Bad und Balkon erschließt sich zwar über einen offenen Grundriß, die Übergänge zwischen Flur, zentralem Wohn- und Eßraum sind fließend. Außerdem erhält die Wohnung viel Licht durch große Glasfronten. Zum Manko zählt allerdings, daß die anderen Räume recht klein sind und sich die Nutzung der Wohnung auf das Wohnzimmer konzentriert. Außerdem finden sich auf den Nordseiten nur kleine Fenster.

Für die Architektin Inge Schmidt-Rathert bieten die Neubauwohnungen denn auch nicht unbedingt „eine hohe Qualität“. Die Nachteile der geringen Dekkenhöhe, wodurch bei dem großen Hauptraum „die Proportionen nicht mehr stimmen“, seinen ebenso gravierend wie die zu kleinen Zimmerchen drumherum. Die Gründerzeitbauten mit ihren großen Räumen böten mehr Spielraum, die Wohnung zu nutzen. Schlecht geplant seien außerdem die innenliegenden Bäder. Hinzu kommt, daß die mit viel Klinker verkleideten Bauten recht hellhörig sind, weil der Betonkern die Geräusche leitet.

Während die Idylle am Berlin Museum wohl kaum gestört werden wird, ist es in anderen IBA- Dörfern mit der Ruhe vorbei. In der westlichen Zimmerstraße, an der die dreigeschossigen Wohnbauten als Abschluß zur gegenüberliegenden Mauer gebaut wurden, sollen nun Neubauten für Büros entstehen, die im Charakter und in der Nutzung gänzlich verschieden sind von der bisherigen Bauweise. Auf den niedrigen Block, den die spanischen Architekten Bohigas, Martorell und Mackey entwarfen, „in dem man auf die Mauer keinen Blick verschwenden und mit dem Rücken zu ihr in einer abgesonderten Ruhezone“ leben sollte, kommt nun die Hauptstadtentwicklung zu.

Siegfried Hartmann, Bewohner der Zeile, bereitet das ebenso Sorgen wie Claire Brünn, die im IBA- Block gegenüber der Baustelle am Potsdamer Platz lebt. Der Wunsch, „hier randstädtisch, mit Innenhof und jenseits des Tumults zu wohnen“, komme „unter die Räder“. Potsdamer Platz einerseits und IBA-Wohnkultur andererseits vertrügen sich schlecht, weil man, statt an der Peripherie zu wohnen, nun ins Zentrum katapultiert werde. Wer jetzt hier mit Kindern lebe, klagt Brünn, habe dieselben Probleme wie in einem Wohnhaus mitten in der City: keine Ruhe, Verkehr und wenig Freifläche.

Ihrem Nachbarn macht das nichts aus. Der sei, nachdem einige Mieter dem Baulärm durch Auszug entflohen waren, erst im Frühjahr ins Haus eingezogen. Am Abend hätte der „ganz cool“ im grünen Hinterhof gehockt, und tagsüber gegenüber gearbeitet – frei nach dem Motto: Hinten Ostsee und vorn Potsdamer Platz.