: Unsere Verfassung als geistige Waffe
■ Am 21. Oktober 1947 trat die Bremer Verfassung in Kraft / Wird sie heute zur Verteidigung der Selbständigkeit gebraucht?
Wenn der Bremer unter Depressionen leidet, dann kann er zur Aufmunterung Rostbratwürste essen oder in seiner Verfassung lesen: „Die Wirtschaft hat dem Wohl des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfes zu dienen.“Daß solch humanistischer Seelenschmaus mit der Realität in etwa ebensowenig zu tun hat wie die alttestamentarischen zehn Gebote, muß man schließlich nicht immer erinnern.
Seit den Attacken der letzten Monate von Teufel und Stoiber in Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich stellt sich aber wieder die Frage, wie lange die Bremer sich noch über die schöne Prosa ihres Paragraphenwerks erfreuen dürfen. Indiz für den Ernst der Lage: Zur Feier des 50jährigen Verfassungsjubiläums lud die juristische Gesellschaft Bremen einen Verfassungswissenschaftler ein, der seine geistige Prägung in der ultraföderalistischen, kleinfutzeligen Schweiz erhielt. Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Häberle reiste aus dem fernen Bayreuth an, um den Bremern Durchhaltevermögen zu predigen. Die Feierstunde mutierte zu einem Lehrgang in geistiger Selbstverteidigung. Die Waffe: die liberalen Qualitäten der Bremer Verfassung.
Prof. Häberle bestückte seine fachkundigen Zuhörer mit argumentativer Munition gegen eine niedersächsische Einverleibung. Im Unterschied zum Kunstgebilde Niedersachsen fußt die Bremer Verfassung auf einer langen Tradition territorialer Eigenständigkeit, ähnlich wie die Hamburger und die Bayerische Verfassung. In einem kühnen historischen Rundumschlag untersucht Häberle, wie Verfassungsänderungen, egal ob bei Neuauflagen alter geographischer Ordnungen, wie zum Beispiel in den neuen Bundesländern, oder bei grundsätzlichen Umstrukturierungen ganzer Staaten, wie im Fall Südafrikas oder der baltischen Staaten, immer Anlehnung an bestehende Verfassungen suchen. Auch die Verfassung des winzigen Bremens strahlte beispielgebend und vorbildhaft in die verschiedensten Ecken der Welt. Im Grunde pflegt Häberle einen marktwirtschaftlichen Ansatz: Je mehr Verfassungen zueinander in Konkurenz stehen umso mehr unterschiedliche sozialpolitische Konzepte und politische Organisationsformen können erprobt werden, desto besser für die Welt im allgemeinen, Deutschland im besonderen. Anlaß für Häberle, sich in poetische Höhen aufzuschwingen: nachgerade verliebt ist er in die Metapher vom „bunten Konzert der Verfassungen“in der „keine Stimme zum Verstummen gebracht werden darf“ohne die Harmonie des Ganzen zu stören.
Nüchterner sieht es der Experte vom Justizressort, Hans Wrobel: Ein Verfassungstext ist geduldig, „man kann viel in ihn hineinschreiben, bewirken muß es deshalb noch lange nichts, zumal die Reichweite des EG-Rechts zunimmt. Bei Subventionen spielt die Musik längst in Brüssel.“Da nützen keine noch so schönen Arbeitsplatzgarantien durch die Bremer Verfassung. Und trotzdem: „Ich würde alles dafür tun, mir diese Waffe nicht aus der Hand nehmen zu lassen.“
Für Dian Schefold, Bremer Verfassungswissenschaftler, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Verfassung und Realität „ähnlich komplex wie die nach Henne und Ei.“Ein liberaler Geist in der Politik drängt nach einer liberalen Verfassung, und die fördert wiederum eine liberale Politik.
Bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Bremer Verfassung ist für ihn vor allem „die starke Betonung des Kollegialitätsprinzips“im Senat. Natürlich hängt der Nutzen davon ganz „von der Qualität der politischen Figuren ab, welche jenes System füllen“. bk
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