: Die langsame Hebung des Geisterschiffs
Das von der italienischen Marine versenkte Flüchtlingsboot mit achtzig Leichen an Bord kommt an die Oberfläche – aber noch nicht ans Tageslicht. Wer hat Schuld? Noch versucht das Militär, den Schaden von sich abzuwenden ■ Aus Brindisi Werner Raith
Enver Sixa steht vor den Toren des „Molo Inglasa“ in Brindisi. Dort hinten, sagt er, „werden sie die Körper hineinbringen“. Ein großer grauer Container ist aufgebaut worden, daneben mächtige Maschinen: die Kälteaggregate. Denn dort sollen die Leichen der Ertrunkenen obduziert werden, die am Karfreitag 1997 in 800 Meter Tiefe gezogen worden sind, nachdem die italienische Fregatte „Sibilla“ das Flüchtlingsschiff „Kater I Rades“ gerammt hatte. „Leichen, oder was von ihnen übrig ist“, sagt Enver bitter.
Indiskretionen der Taucher, die in den letzten Stunden durch die Bullaugen des auf 20 Meter Meerestiefe gehobenen Wracks gespäht haben, nehmen den Verwandten jegliche Hoffnung, ihre Lieben auch nur annähernd wiederzuerkennen. Allenfalls Gerippe, manchmal noch bekleidet, mitunter aber nur noch mit einem Schuh oder einem Schal angetan, waren da zu sehen.
Vor der Bergung der einzelnen Leichen sollen Videoaufzeichnungen genau festhalten, wer wo und wie gelegen hatte, damit die Identifizierung rundum gesichert wird, das hat jedenfalls Untersuchungsrichter Leone De Castris verfügt.
Im Gegensatz zu den meisten Angereisten – oder seit dem Unglück vom Karfreitag dieses Jahres hier in Notunterkünften untergebrachten Überlebenden hofft Enver, daß er niemanden wiedererkennt. Denn wie viele andere Albaner weiß er überhaupt nicht, ob sein Sohn auf dem Schiff war: Die 34 nach der Kollision lebend Geborgenen kannten die Namen ihrer Mitreisenden meist nicht, das Gedränge auf dem gerade mal 21 Meter langen Schiff war so dicht, daß man nur seine engsten Nachbarn sehen konnte.
Die Menschen, die sich in der Hoffnung, dort weniger zu frieren, im Bauch des Schiffs aufgehalten hatten, sind allesamt ertrunken. Vor allem Frauen und Kinder waren unter Deck, aber auch manche Männer, die dort ihre Habe bewachten.
Nach den von den Behörden beschlagnahmten Unterlagen sollen sich 117 Personen auf dem Schiff befunden haben – doch Zeugen behaupten, im letzten Moment seien noch Dutzende Ausreisewilliger auf das Boot gesprungen. Enver fürchtet, daß auch sein Sohn Nike dabei war. Gehört hat er jedenfalls nie mehr etwas von ihm.
Das muß noch nicht bedeuten, daß er auf dem Schiff war: Viele Albaner haben sich in Italien verkrümelt und lassen nichts von sich hören, aus Angst, sich sonst zu verraten. Enver hofft, daß Nike mit einem anderen Schiff glücklich gelandet ist.
Andere haben diese Hoffnung nicht – das Brüderpaar Viron in der Notunterkunft von Brindisi hat zusammen fünf Angehörige verloren, vier Kinder und die Frau des älteren. Ein anderer Überlebender weiß, daß im Schiffsbauch sein Kind, seine Frau und seine Schwägerin liegen.
Auf den Fischerkahn, auf dem die Journalisten – in gebührendem Abstand – die Hebung der „Kater I Rades“ beobachten können, dürfen die Albaner nicht, da wachen gleich mehrere Beamte beim Einsteigen. Auch sind elektronische Geräte nicht zugelassen, weder Handys noch Notebook-Computer – die Ermittler fürchten, daß, wie schon mehrere Male, die Schreibergilde sofort erste Eindrücke mit vorschnellen Interpretationen versehen und so neuen Unmut auslösen könnte. Schließlich verdeckt der gelbe Heberahmen, eigens für die Bergung gebaut, nicht das ganze Schiff, so daß man durchaus Eindellungen an der „Kater I Rades“ sehen könnte.
Am Montag nachmittag taucht erstmals der Kommandoturm auf, höher wird das Schiff aber nicht gehoben. Taucher lassen sich vom Bergungsschiff hinab, sie kommen nach einiger Zeit wieder hoch, weitausladende Gesten sind zu sehen, sie deuten auf dem eigenen Schiff auf die Mitte und dann weiter nach hinten – just dort, wo bereits im Mai Unterwasserkameras zwei starke Beschädigungen haben erkennen lassen. Also doch zweimal gerammt worden, wie die Albaner behaupten, und nicht nur einmal, infolge eines unglücklichen Manövers der „Kater I Radese“, wie die italienische Marine sagt?
Bisher hoffen die Militärs noch, einen der beiden Einrisse auf frühere Schäden zurückführen zu können. Zivile Experten schütteln da den Kopf. Wenn es zwei tiefe Dellen gibt, müssen beide bei dieser Kollision entstanden sein, sonst hätte das Schiff die 80 Kilometer von Vlora nicht bis zu dieser Stelle geschafft. Die Beantwortung der Schuldfrage entscheidet auch über Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe. Kein Wunder, daß das Tauziehen bereits vor der Hebung sehr heftig ist.
Die Taucher haben inzwischen alle Luken und Öffnungen des Rumpfes verschlossen und versiegelt. Das Bergungsschiff bewegt sich Richtung Brindisi: Gerade mal eine Seemeile kommt man so vorwärts, die See wird unruhiger, und so geht es noch langsamer vorwärts. Durchaus möglich, daß bei schwerer See die Hebevorrichtung nicht hält.
Schnellboote der Küstenwache von Brindisi laufen die Beobachtungsschiffe an, die Journalisten müssen weiter weg. Die Nacht ist angebrochen, doch die Umgebung der Performer ist von mehreren Begleitschiffen taghell erleuchtet: Man will jeden Eindruck von Manipulation während der Nacht vermeiden.
Am Dienstag mittag ist das Schiff dann endlich im Hafen. Hunderte von Menschen stehen auf den höheren Molen, viele mit Blumen und Kränzen. Doch gleich nach der Ankunft die nächste Hiobsbotschaft: Erst in einigen Tagen werden sie zur Identifizierung vorgeladen.
Und sehen dürfen sie ihre Angehörigen auch nicht mehr – nur die Gegenstände, die den einzelnen Leichen zuzuordnen sind, werden ihnen gezeigt. Kleidungsstücke, Fingerringe, Gebisse, Spielsachen. Und danach dürfen sie einen kleinen Sarg oder eine Aschenurne mit nach Hause nehmen. „Ich weiß nicht mal, ob da mein Kind oder meine Frau drin liegt“, sagt Vater Viron.
Das Ende einer Reise, das für viele Menschen neue Hoffnung bedeutet hatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen