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Gut abgeträumt

Es ist britisch und populär und doch keine Musik, ist Bühnenkunst, doch kein Theater: Live Art. Vierfach zu Gast in Berlin  ■ Von Petra Kohse

Das Plakat: Auf hellblauem Grund steht oben „Live“, unten „Art“, und dazwischen sieht man die Verpackung eines hellblau- weißen Gummipools („The Wet Set“), auf der dich Mama, Papa und gleich sechs Kinder in selbigem sitzend artig grüßen. Wenn hiermit die ultimative White- Trash-Offensive angekündigt werden soll, dann hat man sie sich genau so vorgestellt. Live Art? Kunst, die dir das Leben gibt. Auf der Bühne sieht das nachher allerdings anders aus.

Unter dem Namen „Live Art“ werden seit einigen Jahren verschiedene Entwicklungen in der britischen Theaterszene zusammengefaßt, die nichts mit Literatur oder Drama, aber alles mit dem Alltag und den dort verankerten Künsten zu tun haben wollen – Comic, Clubbing, Video, Tanz, Performance, vielleicht noch bildende Kunst. Wobei Live Art nicht mit einer theatralen Multimedia- Avantgarde verwechselt werden darf, wie Matt Adams von der Gruppe Blast Theory betont. Vielmehr handle es sich um etwas vom herkömmlichen Theater völlig Unabhängiges.

Blast Theory, die sich 1991 in London gegründet haben, sind eine von vier Gruppen aus Großbritannien, die momentan im Berliner Podewil zu Gast sind, um den Deutschen zu zeigen, daß es etwas so Exportfähiges wie Britpop auch als Performance gibt. Außerdem dabei: Forced Entertainment aus Sheffield, die sich 1984 gegründet haben und die Paten der Bewegung sind, die Iren Christine Molloy und Joe Lawlor, die seit 1992 als desperate optimists in Dublin und London zusammenarbeiten, sowie die britisch-deutschen Gob Squad, die seit 1991 existieren und in Nottingham wohnen. Vier aus x Gruppen – rund 1.200 Mitglieder faßt ein Netzwerk der Live-Art- Künstler augenblicklich, und in Nottingham wird ein zweimonatliches live art magazine produziert, das kostenlos über das entsprechende Programm informiert.

„We are culturally literate“, sagen Matt Adams und seine Partnerin Ju Row Farr für Blast Theory – ein künstlerischer Leitsatz, der soviel heißen will wie „Wir buchstabieren die Popkultur“. Wozu paßt, daß sie ihre Selbstdarstellung als Loseblattsammlung in einer CD- Hülle reichen. Auch Forced Entertainment haben ein künstlerisches Motto, und zwar eines, dem man den ehemaligen Pionierstatus der Gruppe wie die Schwere der 80er Jahre deutlich anhört: „Die künstlerische Politik von Forced Entertainment verkörpert den vitalen und ernsthaften Versuch, ein neues Theater für das späte 20. Jahrhundert zu machen, das Verlangen, zeitgenössische Probleme der sozialen Identität, der Sexualität und der menschlichen Ambition in einer zeitgemäßen Sprache zu thematisieren.“

Der Rückschluß, den dieses Manifest auf den Zustand des britischen Theaters zuläßt, ist erschütternd. Während sich hierzulande im Staatstheater eine konzeptionelle Privatheit ausbreitet, die unwidersprochen Live-Qualität hat, und ein Schlingensief staatlich subventioniert das Hamburger Schauspielhaus in den Hauptbahnhof verlegt, ist die ästhetische Entwicklung des Theaters jenseits des Ärmelkanals offenbar so defizitär, daß, wer auf der Bühne eine „zeitgemäße Sprache“ sprechen will, sich eines schußsicheren Überbaus versichern muß.

Das Festival im Podewil ist überschaubar und sympathisch. Es wird vom Künstlernetzwerk Gulliver betrieben und umfaßt neben den Inszenierungen der vier Gruppen (zwei stehen noch aus) auch eine lange Samstagnacht mit Performances und dem Londoner Soundcollagisten Scanner alias Robin Rimbaud. Natürlich wird auch diskutiert, aber letztlich kann sich jeder einfach seins denken: Bild' dir deine Meinung.

Die Installation „Ground Plans for Paradise“, die Forced Entertainment und der Fotograf Hugo Glendinning in der Eingangshalle des Podewil aufgebaut haben, ist in ihrer charmanten Offenheit diesbezüglich symptomatisch. Ein Großstadtmodell aus schachbrettartigen Straßenzügen und zarten Hausklötzen in verschiedener Höhe. Aus den ausgesägten Fenstern dringt Licht, die Straßen sind menschenleer, und man hat alle Zeit, die Namen der Straßen und Häuser zu lesen: Delirium Street, Whisper Street, False Report House oder auch The Big Sid Vicious Building. Sorgfältig wurde hier eine Beziehung zum Beziehungslosen aufgebaut, wurde Anonymität zur Projektionsfläche erklärt, von einem nicht vorhandenen Ich, das sich nur auf persönliche Erfahrungen verläßt – und auch das vielleicht bloß als Traum, wie die aneinandergeschmiegten schlafenden Gesichter von Glendinning andeuten, die den Ground Plan wie ein Fries umgeben.

Nur geträumt – das könnte als Motto auch über „Speak Bitterness“ stehen, einer Produktion von 1994, die Forced Entertainment in der Regie von Tim Etchells zeigt. Ein langer Tisch, sieben Darsteller, viel Papier und noch mehr Bekenntnisse: „Wir spuckten anderen Leuten ins Bier.“ – „Wir sagten uns nie, wie sehr wir uns brauchten.“ – „Wir gingen nach Stonehenge, aber es gefiel uns nicht.“ Alles auf Englisch natürlich, schnell abgelesen oder gesagt, mit Emphase, Trauer oder einem Lachen. Wie andere Leute atmen, bekennen sich diese schuldig – ernsthafter oder lächerlicher Vergehen, frontal ins Publikum blickend, die Sätze im Plural und in der Vergangenheit formulierend. Natürlich persifliert „Speak Bitterness“ die Bekenntniskultur der Talkshows, will aber auch ernst sein, an Orte und Zeiten erinnern, an denen Menschen sich nicht zu sagen trauten, was sie sagen wollten. Live Art? Es wird nicht gefährlich. Gruppendynamik deutet sich an, verwischt sich aber wieder. Ein Alptraum, ein langweiliger.

Zudem: Wenn die Darsteller gerade nichts bekennen, haben sie so einen merkwürdig künstlichen Betroffenheitsblick und demonstrieren die gleiche workshopmäßige Superkonzentration, mit der auch die Mitglieder von Blast Theory am Bühnenrand knien, wenn sie gerade nicht dran sind. Das muß eine englische Krankheit sein. Sonst aber ist an „Something American“, der neuesten Produktion von Blast Theory, alles klasse.

Eine Comic-Performance zum Thema „Amerika“, eine Parade allerlei projektionsfähiger Sehnsuchtsmomente. Drei Performer stellen sich vor und sagen, daß sie erst zweimal oder noch nie in Amerika waren. Nachdem alle mit Björk noch mal ganz viel Alte Welt akustisch eingeatmet haben, kleidet sich dann ein vierter als typischer Cop an. Während er mit schwerem amerikanischem Akzent aus seinem Alltag erzählt, werden auf der 12 Meter langen Leinwand hinter ihm biographische Daten von Liz Taylor und Richard Burton eingeblendet. Dann wabert „I was born under a wandering star“, und alle laufen pathetisch langsam wie auf dem Mond. Später wird eine Comiclandschaft projiziert, und hinter der Landschaft stakst ein Darsteller als Schattenriß darin herum. Oder alle hopsen wie Bugs Bunny auf der schmalen Bühne hin und her, während eine Einblendung darüber aufklärt, daß es 7.238 Elivis-Imitatoren auf der Welt gibt.

Bilderüberlagerung, Gags, der Cop erzählte seine Geschichte so lange weiter, bis er Baseball mit Football verwechselt und alle wissen, daß er lügt und auch bloß ein Engländer ist. Der Golfkrieg und andere Explosionen, George Busch und allerlei Tanzeinlagen kommen vorbei, und nach vielleicht eineinhalb Stunden ertönt die Stimme eines Hypnotiseurs: „Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn ich bei zehn bin, bist du am Ende von ,Something American‘ – eins...“ Eine ähnlich virtuose und schnelle Collagetechnik gibt es hierzulande nicht. „Something American“ ist so allgemein in den Bildern wie persönlich in der Auswahl, ist affirmativ und ironisch, ist ein Nummernprogramm und gleichzeitig die ganz große Erzählung. Live? Auf jeden Fall ziemlich gut.

24./25.10.: desperate optimists, 25.10.: Lange Nacht, 29.–31.10.: Gob Squad, Podewil, Berlin.

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