: Zur anderen Seite des Mondes
■ „Reise in die Dunkelheit“: Ein vorsichtiges und gelungenes Porträt einer Alzheimer-Erkrankung mit viel Gespür (20.15 Uhr, ZDF)
Auch schon mal zielstrebig zum Auto gegangen, aber dann paßte der Schlüssel nicht, weil's gar nicht das eigene war? Beim Tischdecken zwei Messer zum Teller gelegt und zwei Gabeln neben den anderen? Die eigene Telefonnummer nicht auf die Reihe gekriegt? Alltägliche Fehlgriffe, die einen stutzen lassen, „ist wohl nicht mein Tag heute“, aber meist harmlos.
Bei Justus Vorbeck, 52 Jahre alt, der sein halbes Leben lang als Werkstattleiter im Stadttheater die Bühnenbilder baute, häufen sich die Patzer. Bis er sich im eigenen Theater verirrt. Eine „Ausschlußdiagnose“ sortiert sonstige Ursachen aus und erhärtet den fürchterlichen Verdacht. Es sind Zeichen eines unheimlichen, geistigen Verfalls, von dem die Medizin bisher nur sagen kann, daß er unaufhaltsam ist und tödlich: die Alzheimersche Krankheit, fortschreitender Datensalat im Oberstübchen, Absturz der Festplatte, Ende nachvollziehbarer Durchsagen.
Über eine Million Alzheimer- Kranke durchleiden das zur Zeit in Deutschland und mit ihnen noch viel mehr, meist überforderte Angehörige. Tendenz steigend. 200.000 sterben jährlich daran. Aber wie das ist, immer mehr zu vergessen, was man je gelernt und erfahren hat, sich selber im Spiegel nicht mehr zu erkennen, ist nicht mitteilbar. Niemand weiß es. Autor Detlef Michel („Die Denunziantin“) und Regisseur Berthold Mittermayr („Im Dunstkreis“) unternehmen dennoch den Versuch zu zeigen, was man nicht zeigen kann. Das Gespür dafür verdankt Mittermayr – Alzheimer-Patienten. Mit den Hauptdarstellern Peter Simonischek und Tatjana Blacher hat er sie in einem Tagesheim besucht. Und Simonischek („Portrait eines Richters“) schafft dieses ganze Kaleidoskop zwischen unergründlicher Widerborstigkeit und unerwarteter Zartheit mit stiller, anrührender Intensität.
„Plötzlich ist alles weg. Keine Orientierung mehr, wie in einem Labyrinth“, vermag Justus anfangs noch seiner Frau Nina diese Erfahrung mit sich und dem unvermittelten „Loch im Kopf“ zu beschreiben. Was dann weiter in ihm vorgeht, erschließt sich den Außenstehenden nicht. Sie müssen sich ihren eigenen Reim darauf machen – was ge- (Ehefrau Nina, die ihre Liebe zu ihm bewahren kann) oder auch mißlingt (Mutter Helga). Nur auf seinem Gesicht ist manchmal etwas abzulesen: eine Art Nachdenklichkeit etwa, der Hauch stummer Botschaften von Freude oder Verzweiflung in den Augen, Momente auch des Wiedererkennens. Runde, helle Formen jedenfalls scheinen etwas in ihm zu evozieren: die Honigmelone im Supermarkt, die Treppenhauslampe – erinnern sie ihn an den Mond, den er für den „Prinzen von Homburg“ in den Bühnenhimmel gehängt hatte? In diesem Mond erfüllt sich zuletzt sein Schicksal.
Im Gegensatz zur Mehrheit der Alzheimer-Kranken bleibt Justus ein quälend langes Siechtum erspart. Und aus seiner Reise zur anderen Seite des Mondes ist glücklicherweise kein Betroffenheitsfilm geworden. Ulla Küspert
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