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Meditative Balance des Chaos

■ taz-Architektur-Herbst: HamburgerInnnen beschreiben ihr meistgeliebtes oder meistgehaßtes Gebäude der Stadt. Teil X: Christina Weiss über die Revitalisierung einer alten Autofabrik

Wer neugierig durch die Stadt geht, erlebt Überraschungen. Eine Großstadt wie Hamburg bietet viele Chancen für Entdeckungen – nur ungewohnte Wege und neugierige Blicke muß die Passantin selbst riskieren. So traf ich auf eine architektonische Rarität, als ich aus der Rentzelstraße einbog in einen schier verschwiegenen Winkel, der kaum Aufregendes vermuten ließ.

Dort fand ich eines der gelungensten Beispiele, wie gebaute Geschichte der Stadt sich umformen läßt in eine gute Nutzung für Gegenwart und Zukunft. Ich fand einen der vielen Belege dafür, daß eines der stupidesten Vorurteile falsch ist: Immer wieder wird behauptet, daß der Denkmalschutz neue Entwicklungen blockiere; immer wieder wird behauptet, daß Denkmalschutz nur museale Objekte erzeugen könne, die der Staat dann teuer bezahlen müsse. Das ist falsch, die Stadt Hamburg beweist nicht selten das Gegenteil.

Ob Borselhof oder Zeisehallen, ob Wendenstraße 130 oder Stilwerk: An vielen Orten der Stadt können wir inzwischen erkennen, wie fruchtbar die kluge Mischung aus alter architektonischer Substanz und neuer Architektur sein kann, wie lebendig und atmosphärisch anregend die neue Nutzung alter Bauwerke sein kann. In der Rentzelstraße 10a habe ich ein solches besonderes architektonisches Kleinod gefunden.

Im Hinterhof dort steht eines der ersten Stahlbetonskelettgebäude Hamburgs, das 1911 als fünfgeschossige Autowerkstatt mit einem PKW-Aufzug errichtet wurde. Im Krieg teilweise zerstört, wurde das Gebäude in den Folgejahren durch Vernachlässigung fast ruiniert. Was aussah wie ein beliebiger Hinterhof für Kleingewerbe, hat der Architekt Carsten Roth als bauliche Herausforderung angenommen und in einen attraktiven Ort für modernes, zukunftsorientiertes Gewerbetreiben verwandelt.

Dem Architekten ist eine Revitalisierung im besten Sinne gelungen: Er hat bewahrt, was wert ist, erhalten zu werden, wie zum Beispiel den alten PKW-Aufzug, der eine turmartige Hausecke markiert. Um den Eindruck des Beinahe-Turms zu verstärken, hat er Fenster eingesetzt und diese mit Hilfe von Edelstahlpaneelen optisch um die Ecke verlängert. Überhaupt: die Fenster. Carsten Roth hat aus den alten, unregelmäßig geformten Fenstern ein Sehereignis gestaltet. Hölzerne Blendrahmen schaffen eine Maßeinheit, eine fast meditative Balance am Rande des Unregelmäßigen und Chaotischen. Carsten Roth bringt die strenge Kubatur zum Tanzen.

Überall gibt es Materialverbindungen, die konzentrierte Linien schaffen; überall gibt es gestalterische Lösungen zu entdecken, die in ihrer Mischung aus Folgerichtigkeit und Klarheit große Überzeugungskraft haben und die Aufmerksamkeit des Betrachters bannen. Die Liebe zum Eigenleben eines Materials bringt dieses zum Strahlen, und die gestalterische Phantasie des Architekten erlaubt bis in charmante Details hinein ungewohnte und überraschende Materialverwendungen. Wie Carsten Roth zum Beispiel die Heizkörper mit der Rückseite nach vorne kehrt und das Geflecht der Heizschlangen bloßlegt oder eine überschießende Glasfront präsentiert, das zeugt von einer geradezu ansteckenden Entdeckerfreude.

Der Architekt schickt uns in eine „Schule des Sehens“, und was wir dabei erleben, hat er selbst sehr einleuchtend beschrieben: „Das alte Haus ist eine tolle Skulptur für sich. Das Neue kommt als eigenständige Plastik dazu; sie könnte auch wieder weggenommen werden.“So setzt er Alt und Neu in ein lebendiges Spannungsverhältnis, an dem wir Hinterhofvoyeure unser visuelles Vergnügen haben. Wer Lust an neuer Architektur hat, sollte einen neugierigen Blick riskieren!

Christina Weiss ist Kultursenatorin (parteilos) der Hansestadt Hamburg.

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