: Nie wieder Kinderknäste!
■ Für SPD-Vizefraktionschef und Ex-Jugendsenator Jan Ehlers gibt es keine Rechtfertigung, den Willen Jugendlicher mit Gewalt brechen zu wollen
Obwohl schon so lange her, rührt mich die Aufhebung der geschlossenen Unterbringung in Hamburgs Erziehungsheimen 1981 immer noch an. Ich halte sie für die wichtigste Entscheidung meiner Politikerlaufbahn; für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, für die Frauen und Männer in der praktizierten Erziehungsarbeit und auch für mich selbst. Dabei steht mir noch nicht einmal ein Urheberrecht zu, denn ich hatte nur die politische Verantwortung für etwas übernommen, was andere erdacht und bereits umzusetzen begonnen hatten.
Es waren die „Leitgedankler“, die Leiter jener Heime am Ende der Karrieren scheinbar erziehungsresistenter Kinder und Jugendlicher. Dort landeten sie nach verkorkster Erziehungslaufbahn in Familie und Schule, einer langen Kette wiederholter Beziehungsabbrüche und Verlegung von Heim zu Heim schließlich in geschlossenen Gruppen hinter Schloß und Riegel.
Eine Behauptung, unter Einschlußbedingungen gebe es überhaupt keine sinnvolle Interaktionsmöglichkeit, wäre vermutlich maßlos übertrieben. Trotzdem zeigte die Erfahrung, daß nachhaltige Erziehungserfolge ausblieben. Bestenfalls gab es eine Anpassungshaltung als Reflex der Chancenlosigkeit, Autonomie zu behaupten. Deshalb kreisten letztlich die Gedanken der Kids immer um die eine Frage: Wie komme ich hier heraus? Und entwichen wurde. Die geschlossene Unterbringung war niemals eine sichere Verwahrung!
Noch als Lehrling in der Jugendbehörde hatte ich den Zellentrakt im Heim Hütten, einem ehemaligen Polizeigefängnis des Jahres 1850, kennengelernt. Und ich hatte die Dellen der blechverkleideten Zimmertüren im Mädchenheim Feuerbergstraße vor Augen, die junge Frauen in ihrer Verzweiflung mit ihrem bloßen Kopf dort hineingeschlagen hatten. Galt es denn wirklich, diesen unbändigen Freiheitswillen zu zähmen? Was rechtfertigte es, den Willen junger Menschen mit Gewalt zu brechen? Gut 20 Jahre später, jetzt selbst in politischer Verantwortung, fand ich die Heimerziehung beinah unverändert, aber doch in Aufbruchstimmung vor.
Nahezu zügellos entwickelte sich dann die Heimreform in rasantem Tempo, das vor allem dadurch begünstigt war, daß rückläufige Kinderzahlen Personalüberhänge freisetzten, die bald schon eine Betreuungsrelation von fünf Sozialpädagogen zu acht Kids in der Gruppe erlaubten. Ungleiche Bezahlung konnte durch eine breite berufsbegleitende Nachqualifizierung mit Höhergruppierung ausgeglichen werden.
Ein schönes Beispiel für den Reformschwung, der nun mehr und mehr Menschen mitriß, habe ich vom Johannes-Petersen-Heim in Volksdorf in Erinnerung. Auch bei offenen Gruppen erwies sich der Heimalltag trotz zahlreicher Angebote in Werkstätten und mit Freizeitaktivitäten als nicht in der Lage, die Jugendlichen davon abzuhalten, immer wieder den Kontakt zu ihren bisherigen Bezugsfeldern, dem Bahnhofsmilieu oder der Drogenszene zu suchen. Zwei erfahrene Erzieher entschlossen sich zu einer konsequenten räumlichen Trennung vom großstädtischen Hamburger Milieu und brachen mit ihren Jugendlichen zu einer viermonatigen Reise gen Süden auf. Da war was los! Alle Kritik stürzte sich darauf, dieses engagierte und ehrgeizige Unternehmen als Urlaubsreise und Belohnung für kriminelles Verhalten zu diffamieren.
Eine zweite Reise über sieben Monate, diesmal mit nicht weniger als 15 Jugendlichen und vier Betreuern, folgte einem wohldurchdachten Konzept von Reisepädagogik und „Reisender Schule“. Der Skandal war perfekt. Ein Zeitungsverlag der Regenbogenpresse schickte der Gruppe zwei Paparazzi bis nach Marokko hinterher. Sie fütterten die Medien mit „authentischen“Berichten und auch gestellten Fotos.
Als sich die Gruppe durch Weiterreise nach Portugal dieser lästigen Nachsetzungen entzog, kamen die Paparazzi nach. Die folgende handgreifliche Auseinandersetzung endete im örtlichen Polizeigerichtsverfahren mit einem Freispruch für Kids und Erzieher. Da war was los in den Medien und auch in der Bürgerschaft. Aber am Ende der Reise waren acht der Jugendlichen nicht mehr schulpflichtig, und alle acht bestanden in der Fremdenprüfung ihren Hauptschulabschluß! Einer aus der Gruppe von 15 ging während dieser sieben Monate wegen einer Straftat verloren – einer zuviel. Doch der Erfolg überzeugte, nicht zuletzt auch in der Bürgerschaft.
Nach diesen Reisen fand das Erziehungspersonal des Heimes dort kein geeignetes Erziehungsfeld mehr, obwohl Elemente aus der Reisezeit, wie etwa der selbständige Einkauf, in den Heimalltag übernommen wurden. Das Heim löste sich kurze Zeit später dadurch selbst auf, daß Jugendliche und Erzieher in Wohngruppen selbständige Lebensgemeinschaften bildeten.
„Menschen statt Mauern“hat als Parole die Heimreform befördert. Das Gefühl, an der Entstehung einer solchen Entwicklung beteiligt gewesen zu sein, tut außerordentlich gut, denn der Anfeindungen gab es viele. Die gleichzeitige Beobachtung, daß sich fast überall in der Bundesrepublik eine ähnliche Entwicklung endogen vollzog, verblüfft und macht bescheiden.
„Menschen statt Mauern“legt das Mißverständnis nahe, als könnten Menschen das bewirken, was früher von Mauern erträumt worden ist: eine Gesellschaft frei von kriminellen Jugendlichen. Politik wird weiterhin aushalten müssen, daß öffentliche Erziehung ebenso mißlingen kann wie jene in Familie und Schule als den eher üblichen Erziehungsinstitutionen.Fehler können vorkommen. Nicht zu akzeptieren sind Nachlässigkeit aus Gleichgültigkeit. Das Heim als umfassende soziale Kontrollinstanz schien zugleich auch die Pflichterfüllung des Erziehungspersonals zu garantieren.
Auf dem breiten Pfad der Normalisierung verflüchtigt sich soziale Kontrolle für Klienten wie für das Personal. Ohne verpflichtenden Charakter wird es nicht gehen. Das sozialpädagogische Personal sollte darüber nachdenken, ob moderne Formen öffentlicher Erziehung wirklich gut daran tun, ähnlich wie Familien in der anonymen Privat-heit eines Wohnquartiers zu versinken. Für beide, Klientel wie Personal, könnte es Vorteile bringen, wenn sich die Organisationsform öffentlicher Erziehung im Quartier auch öffentlich zu erkennen gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen