piwik no script img

Wenn du Zicken machst, bringe ich dich um

In Mexiko ist die Kriminalität sprunghaft angestiegen. Wer nur sein Geld los wird, hat noch Glück gehabt – anderen werden heimlich die Nieren rausoperiert. Beliebt für Überfälle: die Taxis der Hauptstadt  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Zerstreut war sie in einen der weißgrün lackierten Käfer gestiegen, hatte dem Fahrer die üblichen Instruktionen für den Heimweg gegeben – in der wildwuchernden Hauptstadt wird den Taxis in der Regel keine Adresse mitgeteilt, sondern lediglich ein paar Rechts- links-Anweisungen, die den Fahrer zum Zielort lotsen sollen – und sich auf dem Rücksitz zurückgelehnt. Es war ein langer Tag gewesen, sie wollte nach Hause.

Kurz vorm Ziel biegt das Auto plötzlich in eine Seitenstraße ein. Warum diese Taxistas nie richtig zuhören können! Sie seufzt verärgert, „Ich habe doch gesagt...“ Der junge Mann am Steuer unterbricht sie trocken: „Señora, das ist ein Überfall.“ Es geht rasend schnell. Die Tür geht auf, zwei weitere junge Männer drängen sich zu ihr auf die Rückbank, einer preßt ihr eine Pistole in die Rippen. „Wenn du Zicken machst, bringe ich dich um“, schreit er ihr ins Ohr.

Das Auto fährt langsam durch schlechtbeleuchtete Straßen. „Das ist ein Film“, denkt sie entgeistert. „Das kann gar nicht sein.“ Ein paar mal sagt sie diesen sinnlosen Satz laut vor sich hin, während der fette Kerl an ihrer Seite sie immer weiter anbrüllt. Dann kommt die Panik über sie, wie eine Welle. Der Pistolenmann hingegen scheint sich allmählich zu beruhigen. Und kann offenbar Gedanken lesen: „Keine Sorge, Süße“, grinst er sie schmierig an, „mit all den Dollars, die du uns gleich geben wirst, gehe ich in die nächstbeste Bar und suche mir ein Mädel, das Bock auf mich hat.“ Schwer vorstellbar, aber egal: totale Erleichterung. Die Typen durchforsten ihre Tasche, fördern nur ein paar Pesos zutage. Wo zum Teufel die verfluchten Kreditkarten stecken? Keine Ahnung, ihr Kopf ist leergefegt, hoffentlich finden sie das Ding bald. Bereitwillig offeriert sie schon mal ihren Silberschmuck. Der wird verächtlich zurückgewiesen. „Wir nehmen nur Gold,“ klärt man sie auf. Die Karte bleibt unauffindbar, auf ihre anderen Habseligkeiten legt man keinen gesteigerten Wert. Sauer sind sie, daß sich der Raubzug so gar nicht gelohnt hat.

Für einen Moment schwappt die Panik wieder hoch. Schließlich aber wird sie an einer Kreuzung rausgelassen. „Nicht umdrehen“, hatte die letzte Anweisung noch gelautet. Hinter ihrem Rücken brausen sie in die Nacht davon.

Spätestens seit dem Weihnachtscrash vor zweieinhalb Jahren, seitdem „la crisis“ in Mexiko- Stadt genauso zum Lebensgefühl gehört wie der Smog, können nahezu alle HauptstädterInnen mit ähnlichen Anekdoten aufwarten. Und manch eine davon ist weit weniger glimpflich verlaufen.

So beispielsweise die Geschichte einer anderen jungen Frau, die eines Abends im eigenen Auto von ein paar bewaffneten Kerls eingekreist wird, sich ab da an nichts erinnern kann und Stunden später wieder am Steuer aufwacht. Es fehlt weder das Autoradio noch die Handtasche, auch sie selber ist bekleidet und, bis auf rasende Kopfschmerzen, offenbar soweit intakt. Glück gehabt, denkt sie und fährt dennoch wegen des dröhnenden Kopfes zu einem befreundeten Arzt ins Krankenhaus. Nach einem kurzen Check schimpft der sie aus: Warum sie als Frischoperierte überhaupt draußen herumlaufe? Erst da entdeckt sie die kleine feine Narbe auf Bauchhöhe und erfährt, daß ihr soeben eine Niere entnommen worden ist.

Auch in den Zeitungen ist tagtäglich Unglaubliches zu lesen. Da berichten brave Bürger von Begegnungen mit Räubern in Werwolf- oder Frankensteinmasken, von ihren meist vergeblichen Versuchen, Diebstähle und Überfälle bei den Behörden zur Anzeige zu bringen, und von korrupten Polizisten. Der organisierte Autoklau gehört längst zum Standard, vor nächtlichen Besuchen von Geldautomaten wird allerorten ausdrücklich gewarnt.

Auch der Beruf des Bankangestellten birgt inzwischen ein gewisses Sicherheitsrisiko: letztes Jahr wurden in Mexiko 465 Bankfilialen überfallen, 103 davon allein in der Haupstadt, was einem Anstieg von satten 117 Prozent im Vergleich zu den beiden Vorjahren gleichkommt. Insgesamt kamen dabei 30 Menschen ums Leben.

Nach der letzten offiziellen Statististik von 1995 werden pro 100 Strafanzeigen genau 2,5 mutmaßliche Täter einem Haftrichter vorgeführt. Bei einer Wahrscheinlichkeit von 97,5 Prozent, nicht erwischt zu werden, so konstatiert der Politologe Lorenzo Mayer bitter, sei es „in Krisenzeiten ein absolut rationales Kalkül, daß kriminelle Aktivitäten rentabler sind als fast jede andere“.

Besonders beliebter Schauplatz für derart rentable Aktivitäten sind seit jeher die weißgrünen Käfertaxis. Nach einer Umfrage der Tageszeitung Reforma sind immerhin ein Viertel aller befragten Passagiere mindestens einmal überfallen worden. Zum öffentlichen Thema aber wurde der Taxi- klau erst, als zum Jahresanfang die USA auf den Plan traten. Zunächst hatte das State Department Anfang Januar potentielle Mexikoreisende daheim noch allgemein vor „Unsicherheit und Gewalt“ auf den mexikanischen Straßen gewarnt und gar vom Besuch des historischen Stadtzentrums abgeraten. Wenige Wochen später dann empfahl die US-Botschaft in Mexiko US-amerikanischen Touristen, keines der frei zirkulierenden Taxis mehr zu besteigen – und löste damit einen Sturm der Entrüstung aus.

Tourismusminister und Stadtverwaltung, Taxiverbände und die Medien reagierten unisono schwer beleidigt auf den „faktischen Boykottaufruf“ aus dem Norden. Von „antimexikanischer Meinungsmache“ war die Rede, und manch ein mexikanischer Konsul auf US- Seite fragte spitz zurück, wie es denn bitteschön in Los Angeles aussehe. Stadtregent Oscar Espinosa Villareal vermutete gar einen Frontalangriff „gegen unseren Tourismus“ und selbst die linksliberale Zeitung La Jornada fand eine derartige Empfehlung „unangemessen für normale internationale Beziehungen“.

Dabei scheint die Warnung der US-Diplomaten durchaus nachvollziehbar: Schon in den ersten drei Wochen dieses Jahres hatten Botschaftsangehörige und ihre Familien 17 Raubattacken am eigenen Leib erfahren, die meisten mit Gewalt und viele eben just an Bord eines Taxis. Zum Vergleich: 1994 waren es im ganzen Jahr gerade mal sechs gewesen.

Und immerhin hatte selbst die Kommission für öffentliche Sicherheit des mexikanischen Stadtparlaments Berechnungen bekanntgegeben, nach denen drei von zehn einreisenden Touristen an Busbahnhöfen und Flughafen zumindest beklaut werden.

Wenig später schlossen sich die diplomatischen Vertretungen anderer reiselustigen Nationen den Gringos an. Auf Nachfrage taten auch die kanadische, die britische und die deutsche Botschaft kund, daß sie ihren Landsleuten in Mexiko-Stadt vom freien Taxifahren abraten und allenfalls den Gebrauch von Funktaxen empfehlen.

Etwas eigentümlich mutet dabei allerdings die allgemeine Fixierung auf Touristen an. Denn pikanterweise war am selben Tag der aufsehenerregenden Äußerung des State Department die mexikanische Oppositionspolitikerin Amalia García in einem Taxi nicht nur beraubt, sondern auch mehrere Stunden lang durch die Gegend kutschiert und schikaniert worden. Und dabei sei die Wahl, wie ihre Peiniger während der Schreckensfahrt betont hatten, keinesfalls zufällig auf sie gefallen.

Bei aller Entrüstung über anti- mexikanische Umstriebe sind die Behörden seither in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Auf einer eiligst einberufenen Sondersitzung wurde beschlossen, zur Problemlösung zunächst einmal einen Topf von sechs Millionen Dollar einzurichten – gedacht vor allem zur Imagepflege bei ausländischen Botschaften und Konsulaten.

Und auch die Taxichauffeure selbst wollen nicht länger untätig bleiben. Zur Rettung der Taxista- Ehre hat ein Verband flugs einen Aufkleber an seine paar tausend Mitglieder verteilt. „Die Ehrlichkeit ist meine Flagge“ steht darauf zu lesen, garniert mit stolzen Mexiko-Flaggen und für ganz und gar Spanischunkundige auch gleich noch in englischer Sprache. Die allermeisten von ihnen sind unbescholtene Bürger, die oft genug selber zum Opfer ihrer habgierigen Fahrgäste werden. Nach der Reforma-Umfrage sind nicht weniger als 57 Prozent Taxifahrer mindestens einmal um ihre mickrigen Tageseinkünfte erleichtert worden. Und das trotz der ausgefeilten Sicherheitsvorkehrungen, die neuerdings auch im Branche in Mode sind: Fahrerkabinen aus gepanzertem Plastik oder auch Metallkäfige rund ums Steuerrad.

Dabei scheint die Gier auf Bares keine sozialen oder sonstigen Grenzen mehr zu kennen. „Neulich hat mir sogar einer mit Schlips und blauen Augen die Pistole an den Kopf gehalten“, berichtet einer erbost. „Der hat bestimmt das X-fache verdient wie ich selber.“

Für den verhunzten Ruf der Zunft werden vor allem die sogenannten Piraten, die schwarzen Schafe unter den 90.000 Taxis der Stadt, verantwortlich gemacht. Zwischen 22.000 und 27.000 Pesos (fünf- bis sechstausend Mark) muß ein ehrlicher Taxista für seine Nummernschilder bezahlen, für einen Bruchteil dieser Summe werden von korrupten Angestellten der Zulassungsbehörden gefälschte Duplikate an die Piraten verschleudert. Gegen einen kleinen Aufpreis tolerieren bislang die meisten Polizisten diese „modifizierten“ Schilder dann auch im Straßenverkehr.

Das soll jetzt alles anders werden. Als ersten Schritt in Richtung „Modernisierung“ der öffentlichen Sicherheit demonstrieren junge Polizeibeamte schon heute Bürgernähe: Auf knallrot lackierten Fahrrädern radeln sie seit ein paar Monaten freundlich durch die Nachbarschaft.

Räuber hin oder her, ein gewisse Galanterie scheint mitunter selbst in der mexikanischen Unterwelt vorzuherrschen. Kurz bevor die beiden besagten Taxi-Pistoleros ihr Opfer nahe einem dunklen Park absetzen wollten, überkam die Frau eine – ihr bis heute nicht ganz erklärliche – Anwandlung von Dreistigkeit. „Wenn ihr mich hier raussetzt“, sagte sie zu ihnen, „dann macht hier irgendwer genau das mit mir, was ihr mir nun gerade nicht angetan habt.“ Der Widerling mit der Knarre kicherte nur dreckig, der andere aber hatte ein Einsehen. „Da haste auch wieder recht“, erwiderte er ruhig, kramte in dem soeben entwendeten Geldbeutel und drückte ihr einen 10-Peso-Schein in die Hand. „Damit du mit dem Taxi nach Hause fahren kannst.“ Und als sie ihn fassungslos anstarrte, setzte er mit einem schrägen Lächeln noch hinzu: „Damit du siehst, daß wir in Mexiko anständige Diebe sind.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen