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Ein Freispruch in drei Versionen

Lübecker Brandprozeß: Je länger Richter Rolf Wilcken über sein Freispruchs-Urteil gegen Safwan Eid nachdachte, desto verdächtiger kam ihm der Libanese vor  ■ Von Marco Carini

Die „Wahrheit“hat drei Versionen. Mit der am 24. Oktober signierten schriftlichen Urteilsbegründung legte das Lübecker Landgericht unter Vorsitz des Richters Rolf Wilcken zum dritten Mal eine Begründung vor, warum der Libanese Safwan Eid im Lübecker Brandprozeß freizusprechen war. Verblüffend daran: Das erste Prozeßresümee, mit dem Wilcken bereits im vergangenen April den Freispruch des Angeklagten ankündigte, die mündliche und jetzt die schriftliche Urteilsbegründung ähneln einander nicht nur kaum – sie widersprechen sich sogar in zentralen Punkten.

Befand das Gericht noch im April, daß die Ergebnisse der Beweisaufnahme Safwan Eid nicht belasten würden, bewertet es dieselben Fakten inzwischen so, daß der Angeklagte mindestens Mitwisser, wenn nicht sogar Tatbeteiligter der Brandstiftung gewesen ist, bei der im Januar 1996 zehn Menschen im Flüchtlingsheim an der Lübecker Hafenstraße starben.

Blenden wir zurück: Am 23. April zieht Rolf Wilcken überraschend eine eindeutige Bilanz der ersten 52 Verhandlungstage. Selbst wenn er alle offenen Fragen „in dubio contra reo“– im Zweifel gegen den Angeklagten – bewertete, sähe er keine Notwendigkeit für die Verteidigung, dem Gericht weiteres Entlastungsmaterial zu präsentieren, führt der Jurist aus. Wilcken wörtlich: „Entlastung setzt eine hinreichende Belastung von Safwan Eid voraus, die wir nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht haben“. Daß Safwan Eid freigesprochen werden wird, ist an diesem 23. April so gut wie amtlich.

Obwohl sich am Stand der Dinge nichts ändert, begründet Wilcken am 30. Juni den Freispruch mündlich ganz anders – im Zweifel für den Angeklagten. Plötzlich wägt der Richter selber Ent- und Belastendes für und gegen Eid ab, spricht von Indizien gegen den Libanesen, die aber für eine Veruteilung nicht ausreichen würden.

Besonders die für Wilcken „glaubwürdige“Zeugenaussage des Sanitäters Jens L., dem Eid kurz nach dem Brand mit den Worten „Wir warn's“seine Tatbeteiligung gestanden haben soll, stellt er in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Doch da der Tathergang, den Safwan Eid beschrieben haben soll, nicht mit dem vom Gericht rekonstruierten Brandverlauf übereinstimmt, räumt Wilcken ein, daß der Sanitäter den Angeklagten „möglicherweise falsch verstanden“habe.

Von diesem Mißverständnis ist in der nun vorliegenden schriftlichen Urteilsbegründung keine Rede mehr. Ohne neue Fakten zu benennen geht das Landgericht jetzt davon aus, daß die Aussage von Jens L. „ein Indiz für die Tatbeteiligung des Angeklagten“sei, das immerhin „einen – wenn auch schwerwiegenden – Verdacht“gegen den Angeklagten“begründe. Vom Wahrheitsgehalt der Aussage des Sanitäters ausgehend, spielt das Gericht unter der Prämisse „im Zweifel für den Angeklagten“nun plötzlich mehrere Varianten der direkten und indirekten Tatbeteiligung durch.

„Die Äußerung 'wir waren's' besagt nichts über die Art der Teilnahme“, führt die Urteilsbegründung aus. Safwan Eid könnte die Brandlegung selbst ausgeführt, andere dazu angestiftet oder schlicht Beihilfe geleistet haben. Zwar sei „ein Verdacht in diesem Sinne gegen den Angeklagten weiterhin gegeben“, streut der Gerichtsbeschluß noch einmal massive Zweifel an der Unschuld Eids, doch sei auch eine andere Variante denkbar: Mit „wir“könnte der Angeklagte die HausbewohnerInnen gemeint haben, ohne selber an der Brandstiftung beteiligt gewesen zu sein.

Sollte der Libanese – in dubio pro reo – erst nach der Brandstiftung von den Tatumständen erfahren haben, so könne er nicht der Strafvereitelung überführt werden, da „sein Informant ein Familienangehöriger gewesen sein“könnte, den Safwan Eid nicht belasten müsse. Im Kartext: Der Angeklagte, gegen den es nach Richter Wilckens Auffassung im April noch „keine hinreichende Belastung“gab, wird in der schriftlichen Urteilsbegründung zum Mitwisser, der auch Tatbeteiligter gewesen sein könnte.

Das Urteil legt nahe, daß die Täter aus der Umgebung des Angeklagten kamen und Safwan Eid sie zumindest kennt.

Die ebenfalls tatverdächtigen vier Jugendlichen aus Grevesmühlen werden dagegen von allen gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen. Auch hier verliert die schriftliche Urteilsbegründung – anders als die mündliche und das Zwischenresümee vom April – deutliche Worte: Die „Möglichkeit des gewaltsamen Eindringens von Personen von außen“sei „ausgeräumt“worden und nur eine „nicht ernstlich in Betracht zu ziehende Denkmöglichkeit“.

Auch wenn die neue Freispruchinterpretation für Safwan Eid keine konkreten Folgen hat und öffentlich kaum wahrgenommen wurde, so hat sie doch weitreichende Konsequenzen: Auf Basis der schriftlichen Begründung ist eine Neuauflage der Ermittlungen gegen die Grevesmühlener fast unmöglich geworden. Die Botschaft des Urteils lautet: Deutsche Neonazis haben hier keinesfalls gezündelt. Es waren die Flüchtlinge, die ihre MitbewohnerInnen und eventuell sich selber verbrannt haben. Das bedeutet: Die vielfach gescholtene Staatsanwaltschaft hat zumindest in die richtige Richtung ermittelt.

Hatten es sich die AnwältInnen von Safwan Eid und den meisten anderen Brandopfern bislang offen gehalten, neue Ermittlungen zu fordern, eine Klage gegen die Grevesmühlener zu erzwingen oder die Staatsanwaltschaft wegen Strafvereitelung im Amt anzuzeigen, können die Ermittler ihre einseitigen Recherchen nun auf die Urteilsbegründung stützen. „Der Vorwurf, die Anklage habe auf wackligen Beinen gestanden, ist jetzt entkräftet“, frohlockte Staatsanwalt Michael Böckenhauer nach dem Urteil. Er frohlockte zu Recht. Denn in der 53seitigen Gerichtsschrift findet sich an keiner Stelle mehr eine kritische Würdigung der Ermittlungstätigkeit. Auch hier hat der Gerichtsbeschluß einen anderen Tenor als die mündliche Verkündung. Im Juni hatte der Richter noch betont, „daß die Ermittlungen nicht immer das Maß an zu fordernder Gründlichkeit erreicht haben und die Kammer auch darum vor Beweislücken gestanden hat“.

Der Satz hatte das schleswig-holsteinische Justizministerium veranlaßt, unmittelbar nach dem Prozeßabschluß zu verkünden, es werde prüfen, „ob es zu Ermittlungspannen“der Anklagebehörde „gekommen ist“. Diese Prüfung sollte auf Grundlage des schriftlichen Urteils erfolgen, das jetzt die Staatsanwaltschaft von jeder Schuld freispricht – ihr Ergebnis ist damit vorgezeichnet.

Noch einen Satz hatte Wilcken den Ermittlern am 30. Juni ins Stammbuch geschrieben: Er warf ihnen vor, „einen möglichen Geschehensablauf auf der Basis einiger Zeugen zu rekonstruieren, andere Zeugenaussagen außer Betracht zu lassen, ... und ganze Komplexe wie den Vorbauabbrand und Tod des Sylvio Amoussou zu negieren“. Zudem kam der Richter zu dem Ergebnis, daß es im Haus „zwei Primärbrände gegeben hat“, einen davon – wie von der Verteidigung vermutet – im hölzernen Vorbau des Flüchlingsheimes.

Die offenen Fragen zum Tod Amoussous – der anders als die anderen Brandopfer im hölzernen Vorbau starb und keine für einen Brandtod typischen Rußpartikel in der Lunge aufwies – und die Frage, wer – wenn nicht von außen eingedrungene Fremde – den Brand im Vorbau legte, löst das Gericht nun selber mit einem kühnen Szenario: Als es im ersten Stock schon brannte, sei Amoussou möglicherweise „nach unten in den Vorbau“gegangen, „um sich zu retten“. Als der Flüchtling die Brandstelle passierte, könne unbemerkt „seine Bekleidung Feuer gefangen haben“. Erst im Vorbau soll dann „das Feuer an Sylvio Amoussous Bekleidung ... urplötzlich zu einer eine starke Hitze entwickelnden Stichflamme geworden sein, die Sylvio Amoussous Tod ... herbeiführte“und auch noch den Vorbau in Brand setzte.

Warum Wilcken ohne neue Fakten seine Bewertung der Rollen, die Safwan Eid, den Grevesmühlenern und der Staatsanwaltschaft in dem Verfahren zukamen, innerhalb eines halben Jahres grundlegend veränderte, wird vermutlich sein Geheimnis bleiben. Für die Angehörigen der Brandopfer bedeutet die Wende aber nicht nur, daß nie aufgeklärt werden wird, wer die Verantwortung für den Tod ihrer Familien trägt. Die Opfer dürfen zudem fortan wieder als mögliche TäterInnen bezeichnet werden.

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