Im Schlafzimmer von Aphex Twin

■ David Toop betreibt mit „Ocean of Sound“ Klangforschung an den Wurzeln der Popmusik

Joachim-Ernst Berendt hat unrecht. Die Welt ist nicht Klang, sie ist Sound. Zumindest die Welt der Popmusik. Sound ist der Schlüsselbegriff der Popkritik in den späten Neunzigern und geheimnisumwobenes Attraktivitätsmoment ihres Gegenstandes. Mit „Ocean of Sound“ hat der britische Musiker und Journalist David Toop das Buch zum Phänomen verfaßt.

Toop beschreibt die aktuelle, von Melodie und Text zum Sound gewandelte Popmusik als „bewegliches Konglomerat aus manipulierbaren Stückchen“, „weit entfernt von abgeschlossenen Einheiten“. Seine Beschreibungstechnik ähnelt dabei dem „Fluß der Musik“. Toop führt seine Leser durch eine „verzauberte“, flüssige oder auch „ätherische Landschaft“. Anders gesagt: über einen verzweigten Parcours. Von Geschichte zu Geschichte. Von Musikerlegende zu Musikerlegende. Vom Schlafzimmer des Aphex Twin zu Sun Ras Weltallvisionen.

Toops Ausgangspunkt ist Debussys „pianistische Impression von Autobussen auf dem Boulevard Faubourg Possonière voller seltsamer und unaufgelöster Akkorde“ von 1883 und seine Begegnung mit javanischer Gamelanmusik während der Pariser Weltausstellung 1889. Über Satie kommt er auf lärmende Futuristen wie Luigi Russolo und Edgar Varèse. Über Varèse zu Charlie Parker und Miles Davis. James Brown, Zappa, Hendrix, Stockhausen, Kraftwerk, KLF, die Anfänge von House Music und „Global Techno“ heute. Regelmäßig tritt sein Freund Brian Eno auf den Plan und damit die eigentliche Frage des Textes: Bewegt sich die Sound-Musik eher hin zum therapeutischen Klang, spricht sie „tiefliegende“ psychische „Muster“ an, oder handelt es sich bei ihr um eine adäquate Auseinandersetzung mit den „verwirrenden, chaotischen Geräuschen unserer Umgebung“? Entschieden bleibt Toop unentschieden.

Im Kapitel „Zufrieden im Nichts“ handelt er den Irrsinn posthumer Musikbearbeitung ebenso ab wie den persönlichen Wahnsinn, dem große Soundtüftler wie Phil Spector, Brian Wilson oder Lee Perry immer wieder nahe waren. „Die Grenze zwischen den Stimmen, die verwirrte oder gestörte Menschen quälen und verfolgen, und den noch nicht existierenden Klängen von nirgendwo, die man sich in Tagträumen vorstellt und die der Abenteurer des Klangs zu duplizieren versucht, um sie greifbar zu machen, scheint nur eine dünne Linie zu sein.“

Dünn ist an einigen Stellen des Buches auch die Grenze zur Esoterik. Unter der Überschrift „Begräbnisriten“ betrachtet Toop die in vielen Kulturen hergestellte Beziehung zwischen Lärm und „Tod, Zerfall und gesellschaftlicher Unordnung“. Sein Fasziniertsein vom Schamanismus kann er dabei kaum zügeln. Eine letztlich jedoch immer ethnographische Perspektive schützt ihn davor, der Irrationalität in die Falle zu gehen.

„Ocean of Sound“ ist nicht Toops erster um Klärung eines musikalischen Phänomens bemühter Text. Unter anderem verfaßte er bereits Mitte der Achtziger eine Geschichte der Discomusik. Der große Wurf gelang ihm jedoch mit „Rap Attack“, das 1992 auf deutsch erschien, wie „Ocean of Sound“ in der Übersetzung Diedrich Diederichsens. Toop beschreibt darin einen aus afrikanischen und afroamerikanischen Traditionen, aus Videospielen und Science-fiction-Phantasien bestehenden kulturellen Kontext, von dem her HipHop überhaupt erst – oder doch zumindest besser – verständlich wurde. Eine derart paradigmatische Dimension geht „Ocean of Sound“ völlig ab. Das Buch bleibt ein „Patchwork aus tiefgründiger Weisheit, Hokuspokus und Glossolalie“ (Toop über das „autodidaktische Wissen“ Sun Ras). Ein Beschreibungsversuch. Ein Versuch allerdings, zu dem es bislang keine Alternative gibt. Im Unterschied zum Berendtschen Klang immerhin, dieser altbacken stilisierten Wunderdroge, versteht Toop Sound zumindest zum überwiegenden Teil als historisch und sonstwie codiert. Entsprechend kann man ebenso verwirrend wie gewinnbringend assoziieren. Was Toop getan hat. Jochen Bonz

David Toop: „Ocean of Sound“. Übersetzt von Diedrich Diederichsen. Hannibal Verlag 1997, 320 Seiten, 35 DM