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Stummer Konsens

Das Erbe von 75 Jahren Sozialismus spaltet nach wie vor die russische Gesellschaft  ■ Von Klaus-Helge Donath

Der 7. November, der Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, bleibt auch weiterhin ein offizieller russischer Feiertag. Die einen huldigen der Revolution, die anderen zelebrieren das friedliche Ende des Experiments. Wie dem auch sei, das Datum wird seit einem Jahr „Tag der Versöhnung“ genannt. Der Präsident beschloß es so, ohne daß die Gesellschaft danach verlangt hätte. Dennoch protestierte niemand gegen diesen Beschluß. Der Konsens über ihn kommt einer spezifisch russischen Übereinkunft nahe, entlehnt der ganzheitlichen Vorstellungswelt der Bauern, in der es im Interesse der Konfliktvermeidung nur eine Wahrheit geben durfte. Der Konsens wurde dabei nicht allein im Dialog entwickelt. Die unterlegene Partei fügte sich und hatte zu schweigen. Was dem Familienoberhaupt nützt, tut auch dem Rest der Familie gut, was der Partei hilft, kann dem Volk nicht schaden, und was dem Präsidenten lieb ist...

Dennoch reichen sich die Gegner nicht die Hände. 80 Jahre nach der Revolution, sechs nach ihrem Scheitern, 41 Jahre nach dem 20. Parteitag der KPdSU und sechs Jahrzehnte nach den Moskauer Schauprozessen sind die 75 Jahre Sowjetgeschichte aus dem öffentlichen Diskurs getilgt – als wäre der sowjetische Surrealismus wirklich nur eine über Jahre gutbesuchte Inszenierung gewesen und deren 60 Millionen Leichen bloße Statisten. Die jüngste Geschichte ist versiegelt – buchstäblich.

Archive, die Anfang der neunziger Jahre zugänglich waren, sind wieder verschlossen. Das unheimliche Schweigen nährt unterdessen den Verdacht, die Opfer seien in ihrer Mehrheit auch Täter gewesen. Wurde Deutschland nach dem Nationalsozialismus durch die Nürnberger Prozesse gezwungen, die Vergangenheit mindestens zur Kenntnis zu nehmen, nötigt Rußland nichts, sich seiner unrühmlichen Geschichte zu stellen.

Vielmehr schlüpfen die Kommunisten der KPRF in ein fundamentalistisches Gewand und kehren zur Orthodoxie der Kultur zurück, sei sie nun wirklich oder imaginär. Spielend vertauschen sie den proletarischen Internationalismus mit einem aggressiven Nationalismus. Den Marxismus ersetzt die „russische Idee“, an deren Messianismus die Welt genesen soll. Der Leninismus macht dem russisch-orthodoxen Glauben Platz, während der ehemalige Priester Stalin sich im nachhinein als Heiland erweist, der mit der UdSSR – der Zitadelle des absolut Guten – gleichsam das Gottesreich auf Erden schuf. Ja, sie schämen sich nicht einmal, sich zu Anwälten ihrer Opfer zu ernennen.

Verrat an Marx und dem Bolschewismus? Eine rein scholastische Betrachtung. Denn schon die Revolution hatte mit der Reinheit der Lehre nichts gemein. Sie stützte sich auf die Massen der Bauern, da das Industrieproletariat erst eine marginale Größe darstellte. Die Revolution hofierte beide, obwohl beide Klassen für Entwicklungsmechanismen standen, die sich in ihrer Logik gegenseitig ausschlossen. Seit Jahrhunderten durchzieht eine Trennlinie die Geschichte des Landes, deren Protagonisten nie zu einer Übereinkunft fanden: eine, die es ihnen erlaubt hätte, durch Kompromiß eine neue, höhere Stufe der Zivilisation zu erklimmen.

Das russische Dorf übte sich in Selbstgenügsamkeit. Es kannte keine übergeordneten Interessen, geschweige denn nationale, und verschloß sich allen Versuchen einer Integration. Ja, man suchte nicht einmal Kontakt. Das Prinzip der Sobornost und Obschtschina, der gemeinsamen Nutzung von Gemeindeland, organisierte das innere Zusammenleben. Jeder verfügte über gleich viel Land. Gerechtigkeit und Gleichheit waren die ethischen Leitmotive, die das vorkapitalistische, traditionalistische Denken bestimmten. Langfristige Planung kannte die Dorfgemeinschaft nicht, weil je nach Familiengröße der Grund und Boden neu verteilt wurde. 85 Prozent der Menschen waren damals Bauern, lebten in der „Idiotie des Landlebens“ (Karl Marx). Produktivität, Effektivität und Akkumulation waren nicht nur verpönt, sie untergruben gar den sozialen Konsens, der gleichzeitig Isolation verlangte. Neun Zehntel des Bodens gehörten den Bauern schon vor der Revolution. Doch die Gleichheitsdoktrin ließ ihnen keine Ruhe, auch noch den Rest zu verlangen. Die Kulaken – Verräter mithin. Die Bolschewisten holten die Bauern mit dem Versprechen in die Schlacht, ihnen auch deren Äcker noch zu übereignen.

Den Widerpart, das liberale Prinzip, verkörperte eine städtische Bevölkerung, die zahlenmäßig noch nicht ins Gewicht fiel und die Berührung mit der bäuerlichen Welt eher scheute. Die Revolutionäre knüpften bewußt an die vorkapitalistische Mentalität an. Der internationale Kommunismus als westliches Ideengebäude verwandelte sich über Nacht in einen russischen Kommunismus, dessen tragende Säule der landesübliche Despotismus bildete, der den Menschen als Materie betrachtet, um die Interessen des Staates zu sichern. Bezeichnenderweise heben die heutigen Kommunisten Lenins Leistung hervor, die Desintegration des Imperiums verhindert zu haben und erst in zweiter Instanz dem „praktischen Atheismus“ (Berdjajew) – dem westlichen Kapitalismus – den Zugang versperrt zu haben. Am Ende hatte das traditionalistische Weltbild auf ganzer Linie gesiegt.

Die Dritte Internationale gerann unter Leitung des Kremls zu einer Agentur russischen Messianismus, der sich dem alten Traum nahe wähnte, doch noch als weltbeherrschendes „drittes Rom“ Konstantinopel beerben zu können. Das Reich war der Fluchtpunkt, nicht das Reich der Freiheit. Das Reich der Notwendigkeit lernten die Bauern in der kollektiven Landwirtschaft kennen. Nun gehörte ihnen alles – und nichts. Schafften sie nicht den Sprung über den Gulag ins Reich der Freiheit, mußten sie sich bis in die sechziger Jahre gedulden, um einen Paß zu erhalten, der ihnen erlaubte, das Dorf zu verlassen.

Soziologische Untersuchungen der Perestroikazeit belegen, die mit der Industrialisierung einherschreitende Urbanisierung konnte die kollektive Psyche nicht neutralisieren. „Ehrliche Armut“, „Entindividualisierung“ und Besitzlosigkeit galten als höchste Werte. Das in die Städte abgewanderte Dorf erwies sich gegenüber dem urbanen Leben als erstaunlich resistent. Die mangelnde Produktivität der sozialistischen Industrie, die höchst prekäre Arbeitsmoral trugen denn auch erheblich zum Abgesang der Sowjetunion bei.

Dennoch hat die bolschewistische Revolution eine ungeheure zivilisatorische Leistung vollbracht. Leider kamen die eigenen Völker nicht in deren Genuß. Das Auftauchen eines gesellschaftlichen Alternativmodells zwang den Kapitalismus zum Maßhalten. Der im Modernisierungsgewand auftretende Traditionalismus zähmte die Dynamik der anderen Welt, legte ihr nahe, im eigenen Interesse die Entwicklungstempi zu drosseln. Sie setzte im Westen einen Prozeß der Selbstreflexion in Gang, der historisch keine Vorbilder hatte. Unterdessen flirtete die Dritte Welt mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat und konnte die westlichen Kolonialherren um so schneller abschütteln.

Was für ein machtvoller Dompteur die UdSSR war, zeigt sich bereits sechs Jahre nach ihrem Verscheiden. Die Logik des Marktes frohlockt selbstgefällig auf den gegnerischen Trümmern und fordert quasi den Status eines Naturrechts. Und keiner erhebt ernstzunehmenden Einspruch. Ein halbes Jahrzehnt reicht, um die moralischen Vorräte aufzuzehren, die die kollektive Solidarität im Westen angelegt hatte.

Den Russen dämmert es langsam: Sie waren es, die das Kreuz auf ihren Schultern nach Golgatha schleppten. Haben sie damit nicht ein Anrecht, sich anderen Kulturen überlegen zu fühlen? Ein Nährboden für eine neue Spielart russischen Sendungsbewußtseins, nicht zuletzt aber auch eine Chance zu begreifen, daß es mehr als eine Wahrheit gibt...

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