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■ Interview mit Igor Kljamkin, Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Moskau„Auch bei uns überwiegt nun der Privatmensch“

taz: Politiker des linken und rechten Spektrums behaupten, der Russe unterscheide sich deutlich von Bürgern westlicher Länder. Die Intelligenz leistet hierbei Schützenhilfe. Ist das nicht ein Versuch, sich der Modernisierung zu entziehen?

Igor Kljamkin: Früher dachte der Sowjetmensch, er sei eine ganz besondere Spezies. Dem Westmenschen unterstellte man verächtlich, nur materiell interessiert zu sein, während der Russe das Banner einer verfeinerten Kultur, eines vergeistigten Lebens und hoher moralischer Werte trage. Das war Kompensation nach dem Motto: Ich habe nicht, dafür bin ich gerecht, ehrlich und gut. Im Massenbewußtsein hat in den letzten Jahren unbemerkt eine Revolution stattgefunden. Auch bei uns überwiegt nun der Privatmensch.

Gilt das für alle sozialen Schichten?

Nein, die Intelligenz hat sich von der Entwicklung abgekoppelt und vom Bürger weit entfernt. Im Diskussionsklub des ehemaligen Instituts für Philosophie wird immer gewarnt: Steckt der Westen nicht in einer tiefen Krise? Die Lösung ist einfach.

Rußland soll wieder die Rolle eines Pioniers übernehmen...

...und dem westlichen Hedonismus den angeblich antiökonomischen russischen Typ entgegenstellen. Die Mehrheit hat aber die Dichotomie von komfortablem Leben und ideeller schöpferischer Tätigkeit als einen künstlichen Widerspruch entlarvt. Keiner möchte mehr im Interesse einer lichten Idee auf ein angenehmes Leben verzichten.

Nun fiel auch noch die legendäre russische Selbstlosigkeit den Reformen zum Opfer...

In Kunst und Literatur mögen Uneigennützigkeit und Entsagung weiter verbreitet gewesen sein als im Westen. Dem denkenden Teil der Bevölkerung blieb gar nichts anderes übrig, als sich in Wissenschaft zu vergraben. Das war auch eine Art der Realitätsflucht.

In einigen Ländern Osteuropas hat sich die Intelligenz, von den demokratischen Errungenschaften enttäuscht, zurückgezogen oder ist in nationalistisches Fahrwasser abgedriftet. Erscheint es insofern nicht folgerichtig, wenn das auch die russische Intelligenz tut?

Grundsätzlich lebt die posttotalitäre Intelligenz mit Idealen. Wenn sich diese nicht mit der Realität decken, dann weist sie entrüstet die Wirklichkeit zurück. Das trifft auf alle schwachen Demokratien zu. Solange sich die Marktwirtschaft nicht konsolidiert hat, beherrscht dieser Intellektuellentypus die Szene. In den Industriestaaten gehört die Intelligenz auch zur eher linksorientierten Opposition. Nur hat sich dort ein Wandel in Richtung Expertenkultur vollzogen, der bei uns nicht stattgefunden hat. Im Gegenteil, unsere Denker konservieren die Vergangenheit und ihre anachronistischen Spezifika.

Alexander Solschenizyn wird ebenfalls nicht müde, den Verlust der geistigen und humanitären Werte – duchownost – zu beklagen. Nach 20 Millionen Stalin-Opfern fällt es schwer zu glauben, daß diese Werte das soziale Gedächtnis dominierten.

Durchgeistigung setzt analytische Fähigkeit zur Selbsterkenntnis voraus. Das Volk handelt bis heute nicht selbstreflexiv. Den Russen zeichnete immer seine Emotionalität aus. Das Gefühl, nur gemeinsam zu überleben, hat sich im sozialen Gedächtnis verankert. Solschenizyn hat recht, diese Eigenschaft schwindet.

Konkurrenz bestimmt die Beziehungen.

Ob man das als einen Niedergang der Kultur oder einen weiteren Zivilisationsschritt begreifen will, hängt vom Standpunkt ab. Noch handelt der Russe nicht rational. Die Reflexivität bewegt sich an der Oberfläche: Ist etwas für mich von Vorteil, oder werde ich betrogen? Lüge und Betrug sind derzeit die Norm unseres Seins.

An den Universitäten boomt ein neues Fach, die Kulturideologie. Was früher der wissenschaftliche Kommunismus leisten mußte, übernimmt nun die Kultur, besonders die russische. Sie soll die widerstreitenden Tendenzen der Weltgesellschaft versöhnen. Ist das nicht zuviel des Messianismus?

Die Gesellschaftswissenschaften stecken in einer schweren Krise und sind auf der Suche nach einem neuen Paradigma als Grundlage ihrer sozialwissenschaftlichen Analysen. Wenn damals das Sein das Bewußtsein bestimmte, leiten die Kulturideologen jetzt alles aus dem Überbau ab...

...wieder eine monokausale Erklärung, eine wird durch die andere nur ersetzt. Woher kommt die Angst, sich auf rivalisierende Theorien einzulassen?

Es sind ja immer noch dieselben Leute. Wer früher wissenschaftlichen Kommunismus unterrichtet hat, widmet sich nun der Kultur, ohne viel davon zu verstehen. Ich halte diese Leute aber für ungefährlich.

Aber sie wirken doch mit an dem Fundament einer neuen, alten Ideologie, die zwischen den Polen Überheblichkeit und Isolation oszillierte. Präsident Jelzin schrieb sogar einen Wettbewerb aus, um eine „russische Idee“ zu entwickeln.

Unsere Gesellschaft braucht gemeinsame Werte, nur verspürt sie kein Verlangen nach einer neuen übergreifenden Ideologie. Wenn sie etwas einfordert, dann ein allgemeinverbindliches Regelwerk, das allen gleiche Chancen auf ein prosperierendes Leben einräumt. Industrialisierung und Urbanisierung unter den Sowjets hatten einen positiven Nebeneffekt. Der Mystifizierung und Mythologisierung des Politischen wurde der Boden entzogen. Die Sowjetmacht hat ihre Zivilisationsfunktion erfüllt. Rußland hat erstmals Voraussetzungen, ein westliches Land zu werden. Vom Westen hängt es ab, ob er uns den Zugang gewährt. Interview: Klaus-Helge Donath

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