: „Wir waren die Sklaven von Diehl“
Im Juli wurde dem Rüstungsfabrikanten Karl Diehl die Ehrenbürgerwürde der Stadt Nürnberg verliehen. Jetzt melden sich ehemalige KZ-Häftlingsfrauen zu Wort, die in Diehls Produktionsstätten schikaniert wurden ■ Von Bernd Siegler
Helene Maringer wartete lange, aber dann war ihre Geduld zu Ende. Als sie mitbekam, daß der 90jährige Rüstungsindustrielle Karl Diehl im Juli die Ehrenbürgerwürde der Stadt Nürnberg überreicht bekam, rang sie noch ein paar Wochen lang mit sich. Dann aber fällte sie ihren Entschluß: „Ich muß meine Stimme erheben, denn es ist ungeheuer, daß so ein Mensch eine solche Auszeichnung bekommt.“
Sie kann es nicht fassen, daß ausgerechnet Karl Diehl eine solche Ehre zuteil wurde, nur weil er Geld für den Wiederaufbau der Nürnberger Altstadt gestiftet hat und sein Rüstungskonzern heute mit knapp 13.000 Beschäftigten einen Umsatz von 2,7 Milliarden erzielt. Den Grundstein für diesen Aufstieg aber hatte Karl Diehl in der NS-Zeit gelegt. 1938 übernahm er die Firmenleitung und baute den Betrieb nicht nur mit Hilfe von Zwangsarbeitern, sondern auch von KZ-Häftlingen zu einer bedeutenden Waffenschmiede Nazideutschlands aus.
Die 1921 im polnischen Städtchen Auschwitz geborene Helene Maringer weiß, wovon sie spricht. Nach einer Razzia der SS im Ghetto Sosnowiec kam sie im März 1943 in das Zwangsarbeitslager Markstaedt im Kreis Breslau. Mit dem ersten Frauentransport kam sie im Januar 1944 nach Peterswaldau, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen im südlichen Polen. Ende März waren dort schon über 1.000 jüdische Frauen untergebracht. Gleich nach ihrer Ankunft erfuhren sie, für wen sie hier zu schuften hatten: für den Rüstungskonzern Karl Diehl.
„Das war kein Dorf, das war ein kleines Nest“, erinnert sich Helene Maringer. Noch heute ist Peterswaldau, das jetzt Pieszyce heißt, ein kleines Nest. Noch heute sind die ehemaligen Fabrikhallen die größten Gebäude vor Ort. Wo Diehl einst seine Zünder fertigen ließ, werden jetzt Feuerzeuge der Marke „premet“ hergestellt. „Früh um fünf Uhr mußten wir vor den SS-Aufsehern zum Appell antreten, dann marschierten wir im Dunkeln zu Diehl“, berichtet Helene Maringer. Die Frauen mußten vor Diehls Meistern antreten und wurden den verschiedenen Abteilungen zugeteilt. „Wir waren die Sklaven der SS und dann die Sklaven von Diehl.“
Maringer, die Häftlingsfrau mit der Nr. 26.801, mußte in der Montageabteilung zwölf Stunden lang im Akkord Zeitzünder fertigen. Heimlich notierte sie auf Papierfetzen 300 Namen ihrer Leidensgenossinnnen. „Für später, als Beweis. Ich habe diese Liste gehütet wie ein Auge im Kopf.“ Viele Namen auf der Liste sind durchgestrichen. Diese Häftlingsfrauen wurden nach Auschwitz deportiert.
Anfang Mai 1945 war das Martyrium der Frauen in Peterswaldau zu Ende. Nur wenige der Überlebenden blieben wie Helene Maringer in Deutschland, die meisten wanderten nach Israel aus. Doch den Kontakt untereinander haben sie nicht abreißen lassen. Wenn sie sich ab und an treffen, dann stehen stets die Erlebnisse in Peterswaldau im Mittelpunkt. So auch in der Wohnung von Hertha Pelzmann in Nesciona, 30 Kilometer südlich von Tel Aviv. Ehemalige Häftlingsfrauen haben sich dort zum Kaffeekränzchen getroffen.
Hertha Pelzmann (76) und ihre Zwillingsschwester Ruth Kass mußten in Peterswaldau an großen Fräsmaschinen die Stifte für die Zeitzünder fertigen. Bei Fliegeralarm, so erinnert sich Ruth Kass, waren die Frauen so verzweifelt, „daß wir gebetet haben, hier wegzusterben, um nicht noch länger diese Qualen erleben zu müssen“.
Ruth Kass hat ein „Andenken“ von Diehl: Ihre Hand ist nach einem Unfall an der Fräse krumm zusammengewachsen. Auch Hela Wolfowicz (64) ist gezeichnet. Ihre Finger sind gekrümmt. „Jedes Mal, wenn ich meine Arbeitslupe abnahm, kam der Meister mit dem Hammer und schlug mir auf die Finger.“ Für sie waren die Diehl- Meister schlichtweg „Bestien und keine Menschen“. Daß selbst der Gang zur Toilette einer Entwürdigung glich, war für Henia Golombiarska (72) die schlimmste Erfahrung. Die Frauen litten aufgrund der schlechten Ernährung unter Bauchkrämpfen und Durchfall. Bei Diehl durften sie jedoch nur zweimal pro Tag auf Toilette, darüber wurde penibel Buch geführt. „Wir konnten bitten und betteln, wir mußten in die Hose machen“, erzählt sie und schämt sich noch heute dafür. Frieda Poremba (81) erinnert sich mit Schrecken daran, daß jede Woche ein paar Frauen fehlten. „Die Meister haben gesagt, die und die ist arbeitsunfähig, dann kam eine Kommission und hat die Mädels mitgenommen. Wir haben sie nie wiedergesehen.“
Ob für Demütigungen, Schläge oder Selektionen, übereinstimmend machen die Frauen die Meister der Firma Diehl dafür verantwortlich. Helene Maringer geht jedoch einen Schritt weiter: „Ein Meister hätte es sich nicht erlaubt, uns so zu behandeln, wenn er nicht die Direktive der Betriebsleitung gehabt hätte. Deshalb ist für mich letztendlich der Herr Karl Diehl verantwortlich.“
Als Maringer Ende November 1989 bei Diehl eine Entschädigung einforderte, ließ die Antwort der Konzern-Geschäftsführung nicht lange auf sich warten. Es habe sich um eine „staatliche Zuweisung von Arbeitskräften“ gehandelt, gab man sich bei Diehl als Opfer des NS-Systems. Jedoch schon Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß hatte in seiner eidesstattlichen Erklärung vor Gericht in Warschau 1947 die aktive Rolle der „Betriebsführer“ beschrieben: „Die KZs haben niemals Arbeitskräfte der Industrie angeboten. Vielmehr wurden die Häftlinge nur dann in die Betriebe entsandt, wenn die Betriebe vorerst um KZ- Häftlinge angesucht hatten.“
„Niemand hat doch Diehl gezwungen, uns derart unmenschlich zu behandeln“, empört sich Helene Maringer und ist über die Reaktion der Firma bitter enttäuscht: „So fertigt man keine ehemaligen KZ-Häftlinge ab. Wenn schon keine Zahlung, dann doch wenigstens mit einem guten Wort.“
Doch von Diehl kam bis heute kein „gutes Wort“. Im Gegenteil: Als kurz vor der Verleihung der Nürnberger Ehrenbürgerwürde bekannt wurde, daß Diehl Zwangsarbeiter beschäftigt hatte und er als Träger des Kriegsverdienstkreuzes I. Klasse vorgeschlagen worden war, gab die Firmenleitung kund, daß ein „schuldhaftes Verhalten der Firma nicht“ vorliege. Mit den Stimmen von CSU, FDP, Freien Wählern und „Republikanern“ ließ sich Karl Diehl dann zum Ehrenbürger küren.
Konfrontiert mit den Vorwürfen der Zeitzeuginnen und der Tatsache, daß Diehl mit eigenen Produktionsstätten in den KZs Flossenbürg, Stutthof und Groß-Rosen zu Gange war, herrscht erst einmal Schweigen in Nürnberg. „Vorerst kein Kommentar“, heißt es dazu aus dem Presseamt.
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