: Der Zuschauer als „Voyeur“
■ „Totmacher“Haarmann am Niedersächsischen Staatstheater
Die beiden Männer auf der Bühne, Massenmörder Haarmann und Psychiater Schultze, sind sich im Grunde einig: Er ist „normal“und muß daher „geköppt“werden. Nur: Reicht einmal „Köppen“, oder müßten es nicht gleich 20mal sein? Und überhaupt: Geht der „Kopp“mit in den Himmel, und paßt Mutter dann „auf den besten Menschen Hannovers“auf, daß ihm keiner was tut? Sie wissen es nicht und singen statt dessen im Duett: „Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu Dir – mit seinem Hackebeilchen“. Der „Totmacher“ist seit Samstag abend zurück in Hannover – in der von Kilian Hattstein inszenierten Premiere am Niedersächsischen Staatstheater nach dem Filmdrehbuch von Romuald Karmakar und Michael Farin (1995 mit Götz George). Das Publikum als „Voyeur“reagierte mit starkem Beifall.
Geheimrat Professor Ernst Schultze (Walter Hess) stellt zu Recht fest: „Sie haben Wurst gemacht, sie haben Sülze gemacht. So einen Massenmörder wie sie hat es noch nie gegeben.“In der deutschen Kriminalgeschichte ist der Fall Fritz Haarmann (1879-1925), von Markwart Müller-Elmau überzeugend gespielt, in der Tat ohne Beispiel. Zwischen 1918 und 1924 hat der „Werwolf von Hannover“mindestens 24 junge Männer verführt, ihnen im Liebesrausch die Halsschlagader durchgebissen und anschließend die Körper zerstückelt. Das Fleisch der Toten verkaufte er in Dosen, ihre Kleidung auf dem Markt. Was sich nicht verwerten ließ, die Knochen, warf er in die Leine.
Hattsteins Inszenierung beschränkt sich wie die Filmvorlage von Karmakar auf die Wiedergabe von Gesprächen, die der gerichtlich bestellte Psychiater Ernst Schultze zwischen dem 18. August und 25. September 1924 mit dem „Totmacher“in der Landesheilanstalt Göttingen geführt hat. Der Gutachter kam zu dem politisch gewünschten Ergebnis, daß Haarmann „zwar eine pathologische Persönlichkeit“sei, ansonsten aber „normal“. Somit stand der von Haarmann selbst auch gewollten Verurteilung zum Tode (Schultze: „Ausrotten!“) nichts mehr im Wege.
Die Bühne als Panoptikum: Mit freiem „Fensterblick“in „Schultzes Wohnzimmer“– ein alter brauner Ledersessel für den Professor und eine primitive Pritsche für den „Patienten“prägen das spärliche Bühnenbild – darf der Zuschauer durch gesichtsgroße Löcher in der Holzwand seine Sensationsgier befriedigen, seinen lüsternen Blick nach dem Abnormalen und Perversen schweifen lassen. Wie in einer Zirkusarena überwacht das Publikum die Disziplinierungsversuche des Psychiaters. Jede Ohrfeige, die Schultze an Haarmann verteilt, erreicht mit ihrem Schall auch die Gesichter der „Voyeure“. Nur: Von einer blutrünstigen Bestie ist nichts zu sehen. Der „Werwolf“scheint vielmehr ein seit je her verstoßenes Wesen mit nur einem Wunsch: „normal“sein – und vielleicht ein bißchen geliebt. Olaf Zapke, dpa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen