: „Eine Flucht aus dem Euro wird kommen“
■ Der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Hankel sieht sich durch die absehbaren neuen Defizite in seinem Vorhaben bestärkt, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Euro zu klagen
Heute wird die Steuerkommission eine neue Schätzung des diesjährigen Steueraufkommens vorlegen. Finanzexperten aus dem Arbeitskreis Steuerschätzung erwarten für das laufende Jahr Steuerausfälle von 16 Milliarden Mark, für das nächste Jahr Mindereinnahmen von 20 Milliarden Mark.
taz: Herr Hankel, kommen die Zahlen für Sie überraschend?
Wilhelm Hankel: Nein, überhaupt nicht. Es war nur die Frage, ob es 3 oder 4 Milliarden mehr oder weniger sein werden. Der Trend hat immer festgestanden.
Ist Deutschland bei einem solchen Defizit noch europatauglich?
Streng genommen nicht. Aber nicht allein wegen dieser Zahlen. Das Defizit ist nur ein Teilaspekt der Integrationsprobleme. Der Euro kommt nicht nur deshalb zu früh, weil Europa in einer tiefen Krise steckt, sondern weil es nach wie vor von großen strukturellen Disparitäten geprägt ist. Volkswirtschaften wie Finnland oder Portugal haben nichts gemeinsam. Und für derart unterschiedliche Volkswirtschaften darf man kein einheitliches Geld schaffen.
Wenn aber alle gleichermaßen das Defizitkriterium nicht einhalten, ist das doch halb so schlimm.
Es wäre doppelt so schlimm. Erstens sind die Maastrichter Kriterien falsch gesetzt. Es sind reine Nominalkriterien, die sich auf Zinssätze und Wechselkurse beziehen statt auf die Fundamentaldaten der Volkswirtschaft. Zweitens bedeutet das generelle Verfehlen der Kriterien, daß der Euro eine hochinflatorische Währung werden wird. Es wird eine große Flucht der aus- und inländischen Sparer aus dem Euro einsetzen. Damit steht die europäische Zentralbank vor einem unlösbaren Dilemma.
Die nationalen Defizite sind bereits jetzt größer als erlaubt, eine inflationäre Tendenz ist trotzdem nicht zu erkennen. Warum sollte es beim Euro anders sein?
Aufgrund der Kapitalflucht wird der Euro einen Kurssturz erleben, sobald er eingeführt wird. Damit droht die Gefahr einer Stagflation...
Das klingt nach Selffulfilling prophecy.
Sie überschätzen den Einfluß eines deutschen Professors. Es ist meine Aufgabe, auf die Gefahren und die Kosten hinzuweisen.
Wegen dieser Gefahren wollen Sie zusammen mit einigen Ihrer Kollegen vor das Bundesverfassungsgericht gehen.
Was wir vorhaben, ist ein Schritt der demokratischen Verzweiflung. Eine Währung wie die Mark darf nicht einfach gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Bürger durch Regierungshandeln abgeschafft werden. Leider gibt es auf parlamentarischer Ebene keine Opposition gegen die Einführung des Euro. Der Gang nach Karlsruhe ist die letzte Möglichkeit, sich in einem Staat zu wehren, in dem die Opposition angesichts einer unsoliden Regierungspolitik nicht mehr ihre Aufgabe wahrnimmt.
Sie befinden sich in trauter Eintracht mit der PDS.
Man kann sich leider den Beifall nicht aussuchen. Die Argumente, die wir in Karlsruhe vorzutragen haben, sind andere als die der PDS. Wir wollen Europa vor einem Fehlschlag bewahren. Denn wenn der Euro nicht hält, was man sich von ihm verspricht, wird das zu einem enormen Rückschlag führen.
Rückschläge und Kosten befürchten viele Ihrer Kollegen bei einer Verschiebung.
Alle mir bekannten Argumente gegen eine Aussetzung des Verfahrens sind falsch. Eine Aussetzung besagt ja nicht, daß der Zusammenhalt in Europa nach dem 1.1. 1999 zerbricht. Wer das behauptet, wie einige deutsche Politiker, unterstellt doch unseren europäischen Partnern, daß sie die Konvergenzpolitik nur bis zu diesem Datum betreiben wollen.
Das Kapital hat sich bereits auf dieses Datum eingestellt.
Bei Kapitalanlegern wird eine Verschiebung eher für Klarheit sorgen. Alle europäischen Nationen brauchen Zeit, um ihre Probleme zu lösen, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen und ihre Strukturdefizite zu beseitigen.
Warum sollte es nicht gemeinsam gelingen?
Wir können unsere Sozialsysteme nicht auf europäischer Basis reformieren, sondern nur auf nationalstaatlicher. Erst wenn wir das getan haben, können wir die Sozialsysteme auf europäischer Ebene harmonisieren. Das gleiche gilt für die nationalen Arbeitsmärkte. Die darf nur betreten, wer sich der jeweiligen Tarifpolitik unterwirft. Wenn die Angleichung durch eine gemeinsame Währung erzwungen wird, kommt es zu einem chaotischen Prozeß mit furchtbaren Friktionen. Dessen Auswirkungen auf die einzelnen Länder sind noch gar nicht absehbar. Deutschland würde bei massivem Zuzug aus den Billiglohnländern oder einer massiven Lohnangleichung seinen Status als Hochlohnland nicht halten können.
Damit wäre früher oder später ohnehin zu rechnen.
Mein Akzent liegt auf später. Interview: Dieter Rulff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen